Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 317



101 Ia 317

53. Urteil vom 1. Oktober 1975 i.S. Ruf gegen Gschwind und Kons.,
Gemeinderat Weggis, Regierungsrat und Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern. Regeste

    Art. 4 BV, Willkür, Treu und Glauben im öffentlichen Recht;
Baubewilligung, Fristenlauf bei privatrechtlichen Einsprachen.

    Auslegung: Sinn einer Bestimmung im Zusammenhang mit anderen
Vorschriften massgeblich (E. 2).

    Vertrauen in behördliche Rechtsauskunft (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 28. Oktober 1970 erteilte der Gemeinderat von Weggis Inge
Ruf die Bewilligung zur Erstellung eines Terrassenhauses auf den ihr
gehörenden Grundstücken Nr. 31, 718 und 801. Die privatrechtlichen
Einsprachen des Willi Geschwind, Otto Frey und Engelbert Rütimann wurden
an den Zivilrichter verwiesen. Am 16. November 1970 verlangte Frau
Ruf beim Friedensrichter die Ladung zum Sühneversuch. Diese erging am
14. Dezember 1970 auf den 23. Dezember 1970. Darauf zogen die Einsprecher
am 13./14./15. Januar 1971 ihre Baueinsprachen zurück.

    Am 12. Oktober 1971 ersuchte Frau Ruf den Gemeinderat von Weggis um
Verlängerung der gesetzlichen Frist für den Baubeginn. Das Gesuch wurde
am 14. Oktober 1971 abgelehnt. Auf Frau Rufs Anfrage antwortete ihr
der Gemeinderat am 22. Oktober 1971 schriftlich, die Rechtskraft der
Bewilligung bestimme sich nach dem Tage, an dem "die letzte Einsprache
zurückgezogen bzw. gerichtlich entschieden" worden sei. Die Baubewilligung
erlösche daher nicht vor Ablauf eines Jahres seit dem Eintritt der
Rechtskraft.

    Zwischen dem 11. und 19. Januar 1972 wurde mit den Bauarbeiten auf
den Grundstücken von Frau Ruf begonnen. Der genaue Tag des Baubeginns
ist streitig. Am 17. Januar 1972 wandten sich die ursprünglichen
Einsprecher an den Gemeinderat mit dem Ersuchen, es sei festzustellen,
dass die Baubewilligung am 14. Januar 1972 abgelaufen sei. Der Gemeinderat
vertrat in einem Schreiben von 20. Januar an die drei Gesuchsteller die
Auffassung, die Baubewilligung sei bis zum 15. Januar 1972 gültig gewesen,
und es sei innert dieser Frist mit den Bauarbeiten begonnen worden.

    Gegen diesen Entscheid erhoben die früheren Einsprecher Rekurs an den
Regierungsrat des Kantons Luzern, welcher ihn gut hiess und feststellte,
dass die am 28. Oktober 1970 erteilte Baubewilligung erloschen sei. Am
4. Juni 1973 wies er das Wiedererwägungsgesuch der Frau Ruf ab und
hob zudem die angefochtene Baubewilligung ausdrücklich auf. Erfolglos
wandte sich darauf Frau Ruf mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern. Gegen sein Urteil hat Inge Ruf
staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Darin macht sie geltend, die
Annahme des Verwaltungsgerichts, die Baubewilligung sei am 10. Januar
1971 erloschen, verletze in verschiedener Hinsicht Art. 4 BV.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Formelles.)

Erwägung 2

    2.- § 62 des Baugesetzes vom 25. Mai 1931 (aBauG), der die Grundlage
der verschiedenen in dieser Sache ergangenen Entscheidungen ist, lautet
folgendermassen:

    "Die Baubewilligung erlischt:

    a) wenn der Bau nicht innert Jahresfrist, vom Tage des Eintritts der

    Rechtskraft der Baubewilligung oder, in streitigen Fällen, vom Tage
   der rechtskräftigen gerichtlichen Erledigung an gerechnet, begonnen
   wird;

    b) wenn der begonnene Bau unterbrochen und innerhalb einer vom

    Gemeinderat festzusetzenden Frist nicht vollendet wird;

    c) wenn nicht binnen 2 Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der

    Baubewilligung die Klage auf Beseitigung der privatrechtlichen

    Einsprachen eingereicht wird."

    a) Für den Verfall der am 28. Oktober 1970 erteilten Baubewilligung
kommen zunächst drei Daten in Betracht: der 9. Januar 1971 (Ablauf von
zwei Monaten vom Eintritt der Rechtskraft der Bewilligung an gerechnet),
der 9. November 1971 (Ablauf eines Jahres vom gleichen Zeitpunkt an
gerechnet), der 15. Januar 1972 (Ablauf eines Jahres vom Zeitpunkt des
Rückzuges der letzten Einsprache an gerechnet).

    Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, die Baubewilligung
der Beschwerdeführerin sei am 10. Januar 1971 verfallen, da diese nicht
innert zweier Monate beim zuständigen Gericht Zivilklage auf Beseitigung
der drei Baueinsprachen erhoben habe. Es erachtete somit den ersten der
drei möglichen Verfalltermine als massgebend, wobei die Frage belanglos
ist, ob die Zweimonatsfrist am 9. oder am 10. Januar 1971 ablief. Die
Beschwerdeführerin rügt die Anwendung der Zweimonatsfrist als willkürlich.
Obschon sie die Auslegung des § 62 aBauG durch das Verwaltungsgericht an
sich anerkennt und nur deren Anwendung auf den konkreten Fall beanstandet,
kann es dem Bundesgericht nicht verwehrt sein, die fragliche Bestimmung
selbst auszulegen. An die rechtliche Begründung der Beschwerde ist es
nicht gebunden. Andernfalls wäre das Bundesgericht genötigt, aufgrund
einer möglicherweise unhaltbaren Auslegung eines Gesetzes über dessen
Anwendung im Einzelfalle zu entscheiden, was nicht angeht.

    b) § 62 aBauG setzt die Frist, nach deren Ablauf eine rechtskräftig
erteilte Baubewilligung verfällt, wenn mit der Ausführung des Bauvorhabens
nicht begonnen worden ist, grundsätzlich auf ein Jahr fest. Gemäss lit. a
der genannten Bestimmung läuft die Jahresfrist "in streitigen Fällen" erst
vom Tage der rechtskräftigen gerichtlichen Erledigung an. Dies bedeutet,
dass die Jahresfrist bei Vorliegen privatrechtlicher Einsprachen wesentlich
verlängert wird, und zwar um die Dauer des Zivilprozesses zuzüglich der
für die Klageanhebung zur Verfügung stehenden Frist. Demgegenüber geht der
Wortlaut von lit. c dahin, die Baubewilligung erlösche, wenn nicht binnen
zweier Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Baubewilligung Klage auf
Beseitigung der privatrechtlichen Einsprachen eingereicht werde. Da nach
dem Zivilprozessrecht des Kantons Luzern der Begriff "Klageeinreichung"
nicht Anrufung des Friedensrichters, sondern Anhängigmachung des
Rechtsstreites beim zuständigen erstinstanzlichen Gericht bedeutet, wäre
die Baubewilligung tatsächlich am 9. Januar 1971 verfallen, wenn allein
auf den Wortlaut von § 62 lit. c aBauG abgestellt werden dürfte.

    Eine derartige Gesetzesanwendung ist jedoch unzulässig. Massgebend
ist in erster Linie der Sinn einer Bestimmung, wie er sich vor allem
aus ihrem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergibt (BGE 99 Ia
169 mit Verweisungen auf frühere Urteile). § 62 lit. c aBauG darf
nicht ohne Berücksichtigung von lit. a ausgelegt werden. Liegen keine
privatrechtlichen Einsprachen vor, so beträgt die Frist für den Baubeginn
ein Jahr. Liegen Einsprachen vor, die auf dem Wege des Zivilprozesses
beseitigt werden müssen, so wird diese Frist nicht unwesentlich
verlängert. Weshalb nun in einem Falle wie dem vorliegenden, in dem
zwar Einsprachen vorlagen, eine Verständigung aber ohne Inanspruchnahme
der Zivilgerichte erzielt werden konnte, die Frist für den Beginn der
Bauarbeiten verkürzt werden sollte, und zwar gleich um fünf Sechstel,
ist schlechterdings unverständlich. Eine solche Lösung würde den Bauherrn
zwingen, selbst dann gerichtliche Klage zu erheben, wenn sich schon im
Sühnverfahren eine Einigung ergeben hat, sofern er nicht bereit und in
der Lage ist, innert der um die Dauer der Frist zwischen der Anrufung des
Friedensrichters und dem Sühnvorstand verkürzten Zweimonatsfrist, also mehr
oder weniger sofort, mit dem Bau zu beginnen. Damit würde dem Sühnverfahren
die ihm durch das Zivilprozessrecht eingeräumte Bedeutung genommen. Dem
kann nicht entgegengehalten werden, die Beschwerdeführerin hätte ohne
Rücksicht auf die privatrechtlichen Einsprachen unverzüglich nach Eintritt
der Rechtskraft des Baubewilligungsentscheides mit den Bauarbeiten
beginnen können, wie dies der Regierungsrat in seinem Rekursentscheid
vom 1. Mai 1972 ausgeführt hat. Die in § 62 lit. a aBauG vorgesehene
automatische Erstreckung der Frist für den Baubeginn um die Dauer eines
allfälligen Zivilprozesses beweist, dass dies nicht der Sinn des Gesetzes
sein kann. Es wäre unverständlich, dem Bauherrn zuzumuten, die für den
Bau notwendigen organisatorischen und technischen Massnahmen in einem
Zeitpunkt zu treffen, in dem er mit Sicherheit damit rechnen muss, dass
ihm die weitere Förderung des Bauvorhabens durch vorsorgliche Anordnung
des Zivilrichters verboten werden wird. Wäre § 62 aBauG tatsächlich so
auszulegen, wie dies das Verwaltungsgericht getan hat, so läge in dieser
Bestimmung eine mit Art. 4 BV nicht vereinbare Rechtsungleichheit; denn
es geht nicht an, einem Bauherrn, gegen dessen Projekt privatrechtliche
Einsprache erhoben worden sind, die Frist zur Vorbereitung des Baues auf
einen Sechstel ihrer normalen Dauer zu verkürzen.

    Liest man § 62 aBauG im Zusammenhang, so drängt sich ein anderer Sinn
dieser Bestimmung auf. Während lit. a die Verwirkung der Baubewilligung
regelt, kann lit. c entgegen dem Wortlaut nur die Bedeutung haben,
dass eine Zivilklage, die nicht innerhalb von zwei Monaten eingereicht
worden ist, nicht mehr geeignet ist, die Erstreckung der Frist von § 62
lit. a aBauG zu bewirken. Ist die zweimonatige Frist zur Klageerhebung auf
Beseitigung von Einsprachen versäumt, so läuft jedoch die einjährige Frist
für den Baubeginn weiter, und mit dem Bau kann bis zu deren Ablauf begonnen
werden, wenn es dem Bauherrn gelingt, die Einsprecher ausserprozessual
zum Rückzug ihrer Einsprachen zu veranlassen.

    Die Auffassung des Verwaltungsgerichts scheint im übrigen nicht
identisch zu sein mit derjenigen, die vom Regierungsrat (als damals
höchster kantonaler Instanz) zu der Zeit vertreten wurde, als das alte
Baugesetz noch in Kraft stand. Es wäre sonst nicht verständlich, weshalb
sich der Regierungsrat sowohl in seinem Rekursentscheid vom 1. Mai 1972 als
auch im Wiedererwägungsentscheid vom 4. Juni 1973 zunächst mit der Frage
befasste, ob die einjährige Frist gemäss § 62 lit. a aBauG eingehalten
worden sei, und lediglich hilfsweise auf den Ablauf der Zweimonatsfrist
gemäss § 62 lit. c hinwies.

    Auch aus dem Schreiben des Gemeinderates von Weggis an die
Beschwerdeführerin vom 22. Oktober 1971 geht hervor, dass das kantonale
Baudepartement in jenem Zeitpunkt nicht der Meinung war, die Baubewilligung
könnte schon nach zwei Monaten verfallen gewesen sein. Schliesslich
haben auch die Beschwerdegegner nie an einen solchen Fristablauf gedacht,
wie sich aus ihrer Eingabe vom 17. Januar 1972 an den Gemeinderat von
Weggis ergibt.

    Das Verwaltungsgericht hat somit dadurch, dass es § 62 lit. c aBauG
nur nach seinem Wortlaut angewendet und den Zusammenhang mit § 62 lit. a
ausser acht gelassen hat, dieser Bestimmung eine Bedeutung zugemessen,
die sie nach dem Zweck des Gesetzes nicht haben kann. Es hat damit gegen
das Willkürverbot im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu
Art. 4 BV verstossen, weshalb der angefochtene Entscheid aufzuheben ist.

Erwägung 3

    3.- Die Aufhebung könnte allerdings unterbleiben, wenn sich der
Entscheid des Verwaltungsgerichtes nach den vorliegenden Akten aus anderen
als den angeführten Gründen als nicht willkürlich erwiese. Dies trifft
indessen nicht zu. Zwar ist der Standpunkt der Beschwerdeführerin,
die Frist für den Baubeginn habe erst im Zeitpunkt des Rückzuges der
letzten Baueinsprache zu laufen begonnen, mit der vorstehend vertretenen
Auslegung von § 62 aBauG schwer vereinbar. Allein darauf kommt es nicht
an. Vielmehr durfte sich die Beschwerdeführerin nach feststehender
Rechtsprechung des Bundesgerichts auf die ihr am 22. Oktober 1971 vom
Gemeinderat von Weggis schriftlich erteilte Auskunft über den Ablauf der
Frist verlassen, und es darf ihr daraus, dass sie darauf abgestellt hat,
kein Nachteil erwachsen (BGE 98 Ia 462 f., 101 Ia 99 E. 3). Davon, dass
das Vertrauen in diese Rechtsauskunft nicht begründet oder die mögliche
Unrichtigkeit der Auskunft für die Beschwerdeführerin erkennbar gewesen
wäre, kann hier angesichts der dargelegten unübersichtlichen Rechtslage
sowie des im Schreiben des Gemeinderates enthaltenen Hinweises auf eine
Rückfrage beim kantonalen Baudepartement nicht die Rede sein.

    Das Verwaltungsgericht wird somit entsprechend dem ersten Teil seiner
Erwägungen die Sache zu neuem Entscheid über die Frage, ob die Frist für
den Baubeginn im Sinne der erwähnten Auskunft des Gemeinderates von Weggis
eingehalten worden ist, an den Regierungsrat zurückzuweisen haben, wobei
der Regierungsrat im Sinne der Offizialmaxime sämtliche im Zeitpunkt seiner
neuen Entscheidung verfügbaren Beweismittel zu berücksichtigen haben wird.