Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 264



101 Ia 264

44. Auszug aus dem Urteil vom 11. Juli 1975 i.S. Gemeinde Täsch gegen
Staatsrat des Kantons Wallis. Regeste

    Gemeindeautonomie; Anwendung kommunaler Bauvorschriften (Wallis).

    Dem Walliser Staatsrat steht als Beschwerdeinstanz in Bausachen -
auch in bezug auf die Anwendung des autonomen Baurechtes der Gemeinden
- eine uneingeschränkte Rechts- und Ermessenskontrolle zu. Eine
Autonomieverletzung durch Überschreitung der Überprüfungsbefugnis ist
damit ausgeschlossen. Gegenüber einer zur Ermessenskontrolle befugten
kantonalen Beschwerdeinstanz besteht der Schutz der Gemeindeautonomie
einzig darin, dass der Rechtsmittelentscheid nicht auf einer willkürlichen
Handhabung autonomen Gemeinderechtes beruhen darf.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Streitig ist die Auslegung und Anwendung des kommunalen
Baureglementes. Dessen Vorschriften stellen in bezug auf jene Fragen,
die im kantonalen Recht keine abschliessende Regelung erfahren haben
und bei denen der Gemeinde eine relative Entscheidungsfreiheit zusteht,
autonomes Recht dar; die Gemeinden können sich gegenüber dem Entscheid
einer kantonalen Behörde, welche als Rechtsmittelinstanz über die
Anwendung solcher Vorschriften zu befinden hat, auf den Schutz ihrer
Autonomie berufen (BGE 100 Ia 204). Die Autonomie ist verletzt, wenn die
kantonale Rechtsmittelinstanz ihre Überprüfungsbefugnis überschreitet
oder die Vorschriften des autonomen Rechtes willkürlich anwendet (BGE
100 Ia 203 E. 2a mit Hinweisen). Soweit nicht Verfassungsrecht im Spiele
steht, prüft das Bundesgericht im Rahmen einer Autonomiebeschwerde die
Auslegung der kantonalen Normen durch die zuständige kantonale Behörde -
auch hinsichtlich des Umfanges der Überprüfungsbefugnis - nur unter dem
beschränkten Gesichtswinkel der Willkür (BGE 100 Ia 84 mit Hinweisen.).

Erwägung 3

    3.- a) Die Walliser Kantonsverfassung gewährleistet den Gemeinden
eine gewisse Selbständigkeit (Art. 69 KV), doch umschreibt sie
deren sachlichen Bereich nicht selber (BGE 100 Ia 84). Der Umfang der
kommunalen Rechtssetzungsbefugnis ergibt sich vielmehr aus dem kantonalen
Gesetzesrecht, und nach diesem bestimmt sich - mangels einer besonderen
Verfassungsvorschrift - auch die Frage, wieweit die Gemeinden bei der
Anwendung ihres Rechtes der Kontrolle einer kantonalen Rechtsmittelinstanz
unterworfen sind.

    b) Das kantonale Baugesetz vom 19. Mai 1924 (BauG) ordnet das Bauwesen
nicht erschöpfend. Es enthält selber keine baupolizeilichen Vorschriften,
sondern beschränkt sich darauf, in Art. 4 die Gemeinden zum Erlass von
Reglementen über die Baupolizei zu ermächtigen und in den Art. 8/9
den obligatorischen und fakultativen Gegenstand dieser Reglemente
festzulegen. Unter diesen Umständen ist ohne weiteres anzunehmen,
dass die beschwerdeführende Gemeinde beim Erlass ihres Baureglementes
jedenfalls in bezug auf die hier streitigen Fragen eine relativ erhebliche
Entscheidungsfreiheit besass und dass die im vorliegenden Fall für
die Erteilung der Baubewilligung massgebenden Vorschriften des BauR im
Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung autonomes Gemeinderecht
darstellen. Dass sämtliche kommunalen Reglemente, insbesondere auch die
Baureglemente, der Genehmigung des Staatsrates bedürfen (Art. 82 Abs. 2
KV, Art. 6 BauG), ändert daran nichts. Auch der Staatsrat stellt dies
nicht in Abrede.

    c) Streitig ist jedoch der Umfang der Überprüfungsbefugnis, die
der Staatsrat als Beschwerdeinstanz bei der Anwendung dieses autonomen
Gemeinderechtes für sich in Anspruch nehmen kann. Beide Seiten berufen
sich auf Art. 21 des Staatsratsbeschlusses "über das Verwaltungsverfahren
vor dem Staatsrat und seinen Departementen" vom 11. Oktober 1966 (VWV),
der wie folgt lautet:

    "1 Mit der Beschwerde können alle Rechtsverletzungen, die

    Unangemessenheit des Inhalts der Verfügung sowie die unrichtige oder
   unvollständige Feststellung des Sachverhaltes geltend gemacht werden.

    Ermessensmissbrauch und Ermessensüberschreitung gelten als

    Rechtsverletzung.

    2 In Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde
   ist die Rüge der Unangemessenheit unzulässig."

    Der Staatsrat vertritt die Auffassung, dass das Bauwesen zum
übertragenen Wirkungskreis der Gemeinden gehöre, weshalb er gemäss
Art. 21 Abs. 1 VWV als Rechtsmittelinstanz im Baubewilligungsverfahren
den Entscheid der kommunalen Behörde in jeder Hinsicht frei, d.h. auch
auf seine Angemessenheit hin überprüfen könne. Die Gemeinde hingegen macht
geltend, die Behandlung von Baugesuchen gehöre "ohne Zweifel" zum eigenen
Wirkungskreis, weshalb der Staatsrat auf eine blosse Rechtskontrolle
beschränkt sei. Das Bundesgericht seinerseits hat die Frage, ob die
Walliser Gemeinden bei der Ausübung der ihnen im Bauwesen zustehenden
Befugnisse im Rahmen des eigenen oder des übertragenen Wirkungskreises
handeln, in früheren Entscheiden offen gelassen (BGE 100 Ia 86; nicht
publiziertes Urteil i.S. Gemeinde Saas-Fee vom 13. November 1968 E. 3).

    Die erwähnte Unterscheidung, welche der Staatsrat, offenbar in
Anlehnung an die frühere Autonomierechtsprechung, bei der Regelung
der Kognition in Art. 21 VWV als Abgrenzungskriterium verwendet hat,
ist heute für die Bestimmung des autonomiegeschützten Bereiches nicht
mehr massgebend (BGE 93 I 432, 158). Sie behält jedoch ihre Bedeutung
für die Frage nach der der kantonalen Rechtsmittelinstanz zustehenden
Kognition, soweit sich diese nach Art. 21 VWV bestimmt (BGE 100 Ia
86). Die Beschwerdeführerin stellt die Verfassungsmässigkeit der in
Art. 21 VWV getroffenen Regelung nicht in Zweifel. Streitig ist einzig,
ob diese vom Staatsrat erlassene Vorschrift hier richtig ausgelegt und
angewendet wird, was das Bundesgericht nur unter dem Gesichtswinkel der
Willkür prüft. Da der zur Bestimmung der Kognition verwendete Begriff des
"eigenen Wirkungskreises der Gemeinde" dem übrigen positiven kantonalen
Recht offenbar unbekannt ist, darf der Auffassung, die der Staatsrat
hinsichtlich der Handhabung dieses von ihm selber eingeführten Kriteriums
vertritt, von vornherein ein gewisses Gewicht beigemessen werden. Die
Unterscheidung zwischen eigenem und übertragenem Wirkungskreis ist schon
begrifflich nicht ganz klar (vgl. dazu JACQUES MEYLAN, Problèmes actuels
de l'autonomie communale, ZSR 91/1972 II S. 31-39) und sie bereitet auch
in der praktischen Anwendung bisweilen Schwierigkeiten (vgl. etwa BGE 93
I 159). Angesichts der beschränkten Kognition des Bundesgerichtes bedarf
die Frage hier indessen keiner einlässlichen Erörterung; die Annahme,
der Staatsrat habe im vorliegenden Fall gemäss Art. 21 Abs. 1 VWV über
eine uneingeschränkte Kognition verfügt, hält jedenfalls dem Vorwurf
der Willkür stand. Vorweg ist festzuhalten, dass die Walliser Gemeinden
bei der Anwendung des öffentlichen Baurechts, auch abgesehen von der
Kontrolle durch Rechtsmittelinstanzen, nur beschränkt selbständig
sind; denn zur Erstellung von Bauten ist neben der Bewilligung des
Gemeinderates regelmässig auch eine solche der kantonalen Baukommission
einzuholen, welche das Projekt umfassend auf seine Vereinbarkeit mit dem
kantonalen und eidgenössischen Recht (Gesundheitspolizei, Feuerpolizei,
Gewässerschutz, Schutz des Orts- und Landschaftsbildes, baupolizeiliche
Mindestanforderungen usw.) zu prüfen hat und im Baubewilligungsverfahren
weitgehende Eingriffsmöglichkeiten besitzt (Verordnung über die
Organisation und die Befugnisse der kantonalen Baukommission vom 13. Januar
1967; vgl. dazu P. MÜLLER, Die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Wallis,
Diss. St. Gallen 1969, S. 92 Anm. 353). Schon dies legt den Schluss
nahe, der Entscheid über Baugesuche sei keine "Angelegenheit des eigenen
Wirkungskreises" im Sinne von Art. 21 Abs. 2 VWV. Dass der Staatsrat als
Beschwerdeinstanz in Bausachen eine uneingeschränkte Überprüfungsbefugnis
besitzt, lässt sich überdies ohne Zwang auch aus den Vorschriften des
kantonalen Baugesetzes von 1924 herleiten. Dieses spricht einleitend
in Art. 2 Abs. 1 in allgemeiner Weise von den "Lasten, die mit einem
Grundstück laut den Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes und den
bezüglichen Reglementen verbunden sind" und erklärt in Art. 2 Abs. 2: "Die
Streitigkeiten über die Beschaffenheit und Tragweite dieser Lasten werden
endgültig durch den Staat entschieden" (franz. Text: "Les contestations
sur la nature et la portée de ces charges sont tranchées, sans recours,
par le Conseil d'Etat"). Das heisst zunächst, dass der Staatsrat über
Streitigkeiten im Gebiete des öffentlichen Baurechts letztinstanzlich
entscheidet; darüber hinaus erlaubt die Formulierung der Vorschrift ohne
Willkür aber auch den Schluss, dass der Staatsrat als Beschwerdeinstanz
die Auslegung und Anwendung der kommunalen Baureglemente in gleicher Weise
zu überprüfen hat wie die Handhabung kantonalrechtlicher Vorschriften
und dabei, mangels gegenteiliger Regelung, in beiden Bereichen auch über
Fragen des Ermessens befinden kann. Die Auslegung, die der Staatsrat
Art. 21 VWV gibt, ist insoweit durch das BauG gedeckt.

    d) Ist aber davon auszugehen, dass der Staatsrat als Beschwerdeinstanz
im vorliegenden Falle auch die Handhabung des Ermessens überprüfen
konnte, so erweist sich die Autonomie der Gemeinde nicht bereits dann
als verletzt, wenn der aufgehobene Entscheid des Gemeinderates noch im
Rahmen des rechtlich Zulässigen liegt und auf einer haltbaren Ausübung
der Ermessens beruht. Eine dahingehende Rüge könnte nur dort vorgebracht
werden, wo die kantonale Behörde auf eine Rechtskontrolle beschränkt
ist. Gegenüber einer mit freier Überprüfungsbefugnis ausgestatteten
Beschwerdeinstanz besteht indessen der Schutz der Gemeindeautonomie einzig
darin, dass der Sachentscheid der Rechtsmittelbehörde seinerseits nicht
auf einer willkürlichen Handhabung autonomen Gemeinderechts beruhen darf
(BGE 99 Ia 254; Urteil vom 22. Mai 1974 i.S. Gemeinde Schwyz, publiziert
in ZBl 1974 S. 431 ff.). Nur unter diesem letzteren Gesichtswinkel ist
der angefochtene Entscheid im folgenden zu prüfen.