Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 231



101 Ia 231

40. Auszug aus dem Urteil vom 9. Juli 1975 i.S. Haller und Mitbeteiligte
gegen Kantonsrat des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 85 lit. a OG; Art. 4 BV. Ungültigerklärung einer kantonalen
Volksinitiative wegen inhaltlicher Unvereinbarkeit mit dem
Bundesrecht. Rückwirkung von Gesetzen.

    1. Kognition des Bundesgerichtes (E. 1).

    2. Inwieweit ist der mit der zürcherischen Volksinitiative "Rettet
Regensberg" vorgeschlagene Gesetzesentwurf, der durch ein rückwirkendes
Bauverbot die Beseitigung bestehender Bauten vorsieht, bundesrechtlich
zulässig? Schranke der Rechtsgleichheit (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Mit Beschluss vom 18. November 1974 erklärte der zürcherische
Kantonsrat mit dem erforderlichen Zweidrittelsmehr die am 1. Oktober
1974 bei ihm eingereichte kantonale Volksinitiative "Rettet Regensberg",
welche den Erlass eines bereits formulierten, acht Paragraphen umfassenden
Gesetzes vorsah und 6541 Unterschriften auf sich vereinigt hatte, für
ungültig. Zur Begründung wurde ausgeführt, das vorgeschlagene Gesetz
sei wegen seines rückwirkenden Charakters bundesrechtswidrig; ausserdem
weise die Initiative Formmängel auf. Paul Haller und einige weitere
Mitunterzeichner der Initiative führen wegen Verletzung ihrer politischen
Rechte staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht weist diese ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- ... Bei Beschwerden gemäss Art. 85 lit. a OG überprüft das
Bundesgericht nicht nur die Auslegung von Bundesrecht und kantonalem
Verfassungsrecht frei, sondern auch die Auslegung anderer kantonaler
Vorschriften, welche den Inhalt und Umfang des Stimm- und Wahlrechts
normieren oder mit diesem in engem Zusammenhang stehen (BGE 100 Ia
238 mit Hinweisen, 96 I 61, 92 I 355, 91 I 271 f.). Beim Entscheid der
Frage, ob der Initiative eine hinreichende Begründung beigegeben wurde
und ob das Erfordernis der Identität der Begründung erfüllt ist, legt
das Bundesgericht somit die entsprechenden Vorschriften des kantonalen
Gesetzesrechtes frei aus. Nach dem Gesetz ist eine Initiative als
ungültig zu erklären, wenn sie "dem Bundesrecht widerspricht". Ob dies
vom Kantonsrat hier zu Recht angenommen werden durfte, beurteilt das
Bundesgericht ebenfalls ohne Einschränkung der Kognition. Das gilt nicht
nur hinsichtlich der bundesrechtlichen Normen, deren Auslegung im Rahmen
einer Beschwerde gemäss Art. 85 lit. a OG stets frei geprüft wird (BGE 96
I 61, 92 I 355, 91 I 271 f., 89 I 85 f.), sondern auch in bezug auf die
Auslegung des streitigen Initiativtextes, soweit sie für den Entscheid
über die Gültigkeit der Initiative von Bedeutung ist. Das Bundesgericht
hat kürzlich in einem andern Fall mit freier Kognition geprüft, ob eine
Gemeindeinitiative wegen Unvereinbarkeit mit kantonalem Gesetzesrecht
als ungültig erklärt werden durfte (BGE 100 Ia 238/39); es kann sich
nicht anders verhalten, wenn darüber zu befinden ist, ob eine kantonale
Initiative mit übergeordnetem eidgenössischem Recht in Widerspruch steht.

Erwägung 2

    2.- (Die vom Kantonsrat erhobenen formellen Einwände erweisen sich
als unbegründet.)

Erwägung 3

    3.- Der Kantonsrat scheint das Hauptgewicht nicht auf diese beiden
angeblichen formellen Mängel, sondern auf die Bundesrechtswidrigkeit der
Initiative gelegt zu haben. Er ist der Auffassung, das Gesetz sehe eine
nach dem Bundesrecht verbotene Rückwirkung vor.

    a) Nach § 3 des Gesetzesentwurfs sind im und unter dem
überbauten Gebiet des historischen Städtchens alle baulichen Massnahmen
verboten. Davon ausgenommen sind urkundlich nachgewiesene Rekonstruktionen,
notwendige fachmännische Unterhaltsarbeiten und nach aussen nicht sichtbar
werdende Bausanierungen. Die allenfalls notwendigen Infrastrukturbauten wie
Abwasseranlagen und andere durch Rechtsnormen vorgeschriebene Vorkehrungen
sind unterirdisch anzulegen. Unter dem (verfehlten) Titel "Strafbestimmung"
sieht § 6 des Entwurfs vor, dass bei Übertretung der Vorschriften "dieses
Gesetzes" die Direktion der öffentlichen Bauten Wiederherstellung des
frühern Zustandes verlangt. Wird einem solchen Befehl keine Folge gegeben,
so wird die Direktion der öffentlichen Bauten die notwendigen Massnahmen
auf Kosten des Fehlbaren durchführen lassen. § 7 bestimmt unter dem
Titel "Übergangsbestimmungen", dass Tiefgaragen und Zivilschutzräume
auf historisch überbautem Gebiet den Bestimmungen "dieses Gesetzes"
unterliegen, falls sie am 15. November 1974 noch nicht fertiggestellt
sind. Sind sie "gutgläubig" auf Grund einer nach der bisherigen Regelung
erteilten Baubewilligung nach dem 15. November 1974 fertiggestellt worden,
so ist der Kanton dem Ersteller gegenüber entschädigungspflichtig.

    Es lässt sich aus dem Text des Gesetzesentwurfs schliessen und
ergibt sich vor allem aus der Begründung der Initiative, dass es eines
der wesentlichen Ziele des Begehrens ist, den Bau der bewilligten
Tiefgarage mit Schutzraum der Gemeinde Regensberg zu verhindern. Die
Gemeindeversammlung von Regensberg hatte seinerzeit die für die Ausführung
der Baute nötigen Beschlüsse gefasst. Das Bundesgericht hatte sich in
letzter Zeit verschiedentlich mit Initiativen zu beschäftigen, welche
die Aufhebung von Beschlüssen des Volkes oder der Behörde anstrebten
(BGE 100 Ia 378, 99 Ia 402, 98 Ia 637, 94 I 120). Soweit die Initianten in
Regensberg wohnen, hätten sie wohl auf Grund des Zürcher Gemeindegesetzes
(§§ 50, 96 ff.) die Möglichkeit gehabt, auf Gemeindeebene mit einer
Initiative die Aufhebung der Beschlüsse der Gemeindeversammlung zu
verlangen, die den Bau der Tiefgarage mit Schutzraum zum Gegenstand
hatten. Sie haben nicht diesen Weg eingeschlagen, sondern versucht, ihr
Ziel durch Erlass eines kantonalen Gesetzes zu erreichen. Es steht mithin
hier nicht in Frage, ob eine Gemeindeinitiative, welche die Aufhebung der
Baubeschlüsse der Gemeindeversammlung angestrebt hätte, als zulässig zu
betrachten wäre.

    b) Tiefgaragen und Zivilschutzräume auf historisch überbautem Gebiet
sollen den Bestimmungen des vorgeschlagenen Gesetzes unterliegen,
falls sie nach dem 15. November 1974 fertiggestellt worden sind. Das
bedeutet, dass solche Bauten nach Inkrafttreten des Gesetzes beseitigt
werden müssen, denn sie gehören zu den baulichen Massnahmen, die nach §
3 verboten sind, sodass nach § 6 der frühere Zustand wieder hergestellt,
demnach die Baute beseitigt werden muss. Wenn die Beschwerdeführer in
ihrer Ergänzungsschrift vorbringen, es müsse nur beseitigt werden, was
sehr störend wirke, und das auch nur dann, wenn die Wiederherstellung
des frühern Zustandes nicht als unverhältnismässig erscheine, so ändert
das nichts daran, dass nach der vorgeschlagenen Fassung des Gesetzes die
genannten Bauten schlechthin zu beseitigen sind, das heisst der frühere
Zustand wieder hergestellt werden muss. In der staatsrechtlichen Beschwerde
führten die Beschwerdeführer selber ohne Vorbehalt aus, solche Bauten, das
heisst Tiefgaragen und Zivilschutzräume, müssten wieder beseitigt werden,
sofern sie nicht schon vor dem 15. November 1974 bestanden haben. In ihrer
Ergänzungsschrift anerkennen sie wenigstens noch, dass eine vor dem 15.
November 1974 bewilligte, aber noch nicht fertiggestellte Tiefgarage
auf jeden Fall so geändert werden müsste, dass sie nicht mehr als Garage
benützbar wäre.

    c) Das geplante Gesetz sieht nicht allgemein den Abbruch bestehender
Gebäude vor, um auf diese Weise den historischen Zustand von Regensberg
wiederherzustellen. Es will vielmehr das Stadtbild schützen durch ein
grundsätzliches Verbot künftiger neuer Bauten. Zu beseitigen sind an sich
nur solche Bauten, die entgegen diesem Verbot erstellt worden sind (§
6). Das Bauverbot - und damit die Sanktion des Abbruches - soll indessen
nach § 7 des Gesetzes auch bestimmte Gebäude erfassen, die noch vor
dem Inkrafttreten des Erlasses entsprechend der bisherigen Rechtslage
rechtmässig erstellt worden sind. Das geplante Bauverbot hat somit,
wie der Kantonsrat richtig angenommen hat, rückwirkenden Charakter.

    Lehre und Rechtsprechung lassen eine Rückwirkung von
Verwaltungsgesetzen, die den Bürger belasten, nur dann zu, wenn sie
ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn des Erlasses klar gewollt
ist, wenn sie in zeitlicher Beziehung mässig ist, zu keinen stossenden
Rechtsungleichheiten führt, sich durch triftige Gründe rechtfertigen lässt
und nicht in wohlerworbene Rechte eingreift (BGE 99 V 202 f., 95 I 9, 94 I
5, 92 I 233; IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. A. Bd. I
Nr. 313 S. 162; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 189). Das
erstgenannte Erfordernis (klare gesetzliche Grundlage) kommt hier nicht
zum Zuge, da nicht ein Anwendungsakt, sondern die Rückwirkungsnorm
als solche Gegenstand der Überprüfung bildet. Aus sachlichen Gründen
erweist sich im vorliegenden Fall auch das zweite Kriterium - zeitliche
Mässigkeit der Rückwirkung - als unwesentlich. Dieses Erfordernis bezieht
sich auf Fälle, in denen das zeitliche Ausmass der Rückwirkung aus der
Sicht des Betroffenen eine Rolle spielt, wie etwa bei der Festsetzung
oder Änderung von Abgaben, Renten oder Besoldungsansprüchen. Das trifft
hier nicht zu. Welche Dauer seit der Erstellung der Baute bis zum Erlass
des rückwirkenden Bauverbotes verstrichen ist, hat auf die Schwere der
Belastung keinen direkten Einfluss; es kann nicht davon ausgegangen werden,
dass die Beseitigung neu erstellter Gebäude eher zumutbar sei als der
Abbruch älterer Gebäude. Es erübrigt sich daher, zu prüfen, auf welchen
Zeitpunkt hin der von den Initianten vorgesehene Gesetzeserlass allenfalls
in Kraft treten könnte. Von Gewicht ist einzig die Tatsache, dass ein
rechtmässig erstellter Bau aufgrund eines nachträglich erlassenen Gesetzes
beseitigt werden muss. Ob das Gesetz die Beseitigung bestehender Bauten
als selbständiges Ziel vorsieht und den Grundeigentümer unmittelbar zu
entsprechenden positiven Vorkehren verpflichtet, oder ob der Abbruchbefehl
- wie hier - die Folge eines rückwirkend in Kraft gesetzten Bauverbotes
ist, ändert am Charakter einer solchen Massnahme wenig. Im einen wie
im andern Fall handelt es sich um einen Eingriff in Eigentumsrechte,
der sowohl vor Art. 4 als auch vor Art. 22ter BV standhalten muss. Die
speziellen verfassungsrechtlichen Fragen, die sich im Zusammenhang mit
derartigen Eingriffen stellen können, brauchen hier jedoch nicht weiter
verfolgt zu werden. Jede gesetzliche Regelung muss vorab die Schranken
der Rechtsgleichheit und des Willkürverbotes beachten. Die streitige
Vorschrift in § 7 des Gesetzesentwurfes hält, wie sich zeigen wird, schon
unter diesem allgemeinen Gesichtswinkel einer verfassungsrechtlichen
Überprüfung nicht stand.

    d) Von den Bauten, die allenfalls im fraglichen Gebiet vor dem
15. November 1974 bewilligt, aber erst nachher fertiggestellt werden,
müssen nur Tiefgaragen und Zivilschutzräume beseitigt werden, während
andere zur gleichen Zeit bewilligte und begonnene Bauten unbekümmert darum,
dass und wie sehr sie das Stadtbild verunstalten, nicht zu entfernen
wären. Der Gesetzesentwurf trifft damit eine rechtliche Unterscheidung,
für die ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen nicht
zu ersehen ist (BGE 99 Ia 579, 245), denn es steht ausser Zweifel, dass
andere Bauten das Ortsbild stärker stören können als Tiefgaragen und
Zivilschutzräume, bei denen bloss die Zugänge als Störfaktor in Betracht
fallen, während der eigentliche Bau unterirdisch ist. Schon dieser Mangel
genügt, um den Gesetzesentwurf als gegen Art. 4 BV verstossend und damit
als bundesrechtswidrig zu erklären.

    Es ist sodann nicht einzusehen, wieso die Rechtsfolge des Abbruches
einzig davon abhängen soll, ob die Baute vor oder nach dem 15. November
1975 fertiggestellt worden ist. Diese Abgrenzung bezieht sich auf
ein konkretes Projekt, das zur Initiative Anlass gegeben hat, und
der massgebende Stichtag wurde offenbar bewusst so festgesetzt, dass
diese Baute mangels rechtzeitiger Beendigung wieder beseitigt werden
muss. Wieweit ein derartiges Vorgehen des Gesetzgebers zulässig ist, bleibe
dahingestellt. § 7 des Gesetzesentwurfes enthält eine generell-abstrakte
Norm, die auch andere Bauten betreffen kann und daher losgelöst von jenem
Fall einen vernünftigen Sinn haben muss. Eine Regelung, wonach bestimmte
Arten von bestehenden Bauten, nämlich Tiefgaragen und Zivilschutzräume,
ohne jede Ausnahme abzubrechen sind, falls sie nach einem bestimmten
Zeitpunkt fertiggestellt wurden, hält jedoch vor Art. 4 BV nicht stand. Das
gewählte rein zeitliche Kriterium lässt die Frage nach der tatsächlichen
Störwirkung der Baute, die nach dem Zweck des Gesetzes für den Umfang
der Beseitigungspflicht entscheidend sein müsste, völlig ausser acht.
Nach dem Wortlaut von § 7 des Gesetzesentwurfes müsste gegebenenfalls
auch eine das Stadtbild in keiner Weise beeinträchtigende Anlage -
gegen staatliche Entschädigung - beseitigt werden, während andere,
stärker störende Bauten bloss wegen ihrer etwas früheren Fertigstellung
nicht abzubrechen wären. Abgesehen davon, dass im Rahmen einer derartigen
zeitlichen Betrachtungsweise wohl nicht auf den - zufälligen Einflüssen
ausgesetzten - Zeitpunkt der Fertigstellung, sondern auf jenen der
Bewilligungserteilung oder des Baubeginns abzustellen wäre, besteht kein
vernünftiger Grund dafür, Bauten jüngeren Datums generell strenger zu
behandeln. Auch die staatliche Entschädigungspflicht kann nicht vom Datum
der Fertigstellung abhängen; der Eigentümer, der seinen Bau trotz Kenntnis
der hängigen Initiative begonnen oder fortgesetzt hat, müsste, wie die
Beschwerdeführer anerkennen, ebenfalls als "gutgläubig" (und damit als
entschädigungsberechtigt) im Sinne von § 7 des Gesetzesentwurfes angesehen
werden. Ist eine Baute mit behördlicher Bewilligung rechtmässig erstellt
worden, so können für die Anordnung eines nachträglichen Abbruches
nurmehr noch rein sachbezogene Überlegungen entscheidend sein. Die im
vorgeschlagenen Gesetzestext enthaltene Vorschrift, wonach ausschliesslich
der Zeitpunkt der Fertigstellung massgebend sein soll, trifft damit eine
rechtliche Differenzierung, die sich sachlich nicht begründen lässt und
gegen Art. 4 BV verstösst. Die Initiative wurde daher vom Kantonsrat
zu Recht als bundesrechtswidrig erklärt und nicht der Volksabstimmung
unterbreitet.