Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 148



101 Ia 148

26. Auszug aus dem Urteil vom 21. Mai 1975 i.S. Schulte-Wermeling gegen
Bezirksanwaltschaft Horgen und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
Regeste

    Meinungsäusserungsfreiheit; Untersuchungshaft, Briefkontrolle.

    1. Begriff der "Meinung", deren freie Äusserung durch das
ungeschriebene Verfassungsrecht des Bundes gewährleistet ist (E. 2).

    2. Das in Art. 53 Abs. 3 der zürcherischen Verordnung über die
Bezirksgefängnisse enthaltene Verbot der Weiterleitung von Briefen mit
"ungebührlichem Inhalt" verstösst an sich nicht gegen die Verfassung
(E. 3; Bestätigung von BGE 99 Ia 288/9).

    3. Die auf Grund dieser Bestimmung vorgenommene Einschränkung der
Meinungsäusserungsfreiheit ist nur dann verhältnismässig, wenn der Begriff
"ungebührlich" in einem bestimmten, engen Sinne ausgelegt wird (E. 4).

    4. Zurückhaltende Anwendung des Art. 53 Abs. 3 VO geboten, wenn der
Brief an die Ehefrau gerichtet ist (E. 4 u. 5).

Sachverhalt

    A.- § 53 der Verordnung über die Bezirksgefängnisse des Kantons Zürich
vom 19. April 1973 (VO) lautet wie folgt:

    "Die ein- und ausgehenden Briefe und anderen Sendungen unterliegen
   der Kontrolle.

    Die für die Kontrolle zuständige Stelle kann verlangen,
   dass die Kosten für die Übersetzung fremdsprachiger Briefe
   vorzuschiessen sind.

    Beschwerden gegen die Gefängnisverwaltung oder den Untersuchungsbeamten
   werden unkontrolliert an die zuständige Aufsichtsbehörde weitergeleitet.

    Die Korrespondenz mit Mitgefangenen und früheren Mitgefangenen
   ist untersagt. Briefe mit ungebührlichem Inhalt und Mitteilungen,
   welche sich auf ein hängiges Strafverfahren beziehen, werden ausser
   in der Korrespondenz mit dem Verteidiger nicht weitergeleitet; der

    Gefangene ist hierüber zu orientieren.

    Die Bezirksanwaltschaft Horgen führte gegen Franz-Josef
Schulte-Wermeling eine Strafuntersuchung wegen betrügerischen Konkurses und
setzte den Angeschuldigten am 23. Januar 1975 in Untersuchungshaft. Gemäss
Verfügungen der Bezirksanwaltschaft Horgen vom 21., 25. und 27. Februar
1975 wurden die Briefe, welche F.J. Schulte-Wermeling am 20., 25. und
26. Februar 1975 an seine Ehefrau gerichtet hatte, wegen ungebührlichen
Inhalts in Anwendung von § 53 Abs. 3 VO nicht an die Adressatin
weitergeleitet, sondern dem Verfasser zurückgegeben. Die gegen diese
Verfügungen erhobenen Rekurse wies die Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich am 10. März 1975 ab.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt Franz-Josef
Schulte-Wermeling, den Entscheid der Staatsanwaltschaft wegen Verletzung
des Rechts auf freie Meinungsäusserung sowie des Art. 4 BV aufzuheben.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

      2.- Die Meinungsäusserungsfreiheit gehört dem
ungeschriebenen Verfassungsrecht des Bundes an (BGE 100 Ia 399 E. 4a mit
Hinweisen). Wie das Bundesgericht im Entscheid vom 19. September 1962 i.S.
Filmklub Luzern E. 3 (abgedruckt in ZBl 64/1963 S. 363 ff.) ausführte,
ist der Begriff der "Meinung" weit zu fassen, und es sind darunter
die Ergebnisse von rationalen Denkvorgängen sowie rational fassbar und
mitteilbar gemachte Überzeugungen in der Art von Stellungnahmen, Wertungen,
Anschauungen, Auffassungen und dergleichen zu verstehen.

    Das Verfassungsrecht des Bundes gewährleistet indessen die
Meinungsäusserungsfreiheit gleich den andern Freiheitsrechten nur
unter dem Vorbehalt der Beschränkungen, die sich aus den Anforderungen
der öffentlichen Ordnung im Sinne der öffentlichen Sicherheit, Ruhe,
Sittlichkeit und Gesundheit ergeben (ZBl 64/1963 S. 365 E. 3). Solche
im öffentlichen Interesse liegende Eingriffe sind abgesehen von der
sog. allgemeinen Polizeiklausel nur zulässig, wenn sie auf gesetzlicher
Grundlage beruhen und dem Gebot der Verhältnismässigkeit entsprechen
(BGE 99 Ia 266/67 E. II mit Verweisungen).

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer steht als Untersuchungsgefangener in
einem besonderen Rechtsverhältnis (auch besonderes Gewaltverhältnis
oder besonderes Grundverhältnis genannt, vgl. BGE 99 Ia 267/68 E. III
2) zum Staat und hat deshalb bestimmte Freiheitsbeschränkungen in Kauf
zu nehmen. Diese bedürfen - im Gegensatz zur Begründung des besonderen
Rechtsverhältnisses als solchen - keiner ausdrücklichen gesetzlichen
Grundlage (BGE 99 Ia 268 E. III 3 mit Hinweisen). Ihre Zulässigkeit hängt
demnach entscheidend davon ab, ob sie verhältnismässig sind, d.h. nicht
weiter gehen, als es das besondere Rechtsverhältnis erfordert, welche
Frage das Bundesgericht grundsätzlich frei prüft (vgl. BGE 97 I 844 E. 6).

    § 53 der zürcherischen Verordnung über die Bezirksgefängnisse
schreibt unter anderem vor, dass Briefe mit "ungebührlichem Inhalt"
sowie Mitteilungen, die sich auf ein hängiges Strafverfahren beziehen,
nicht weitergeleitet werden dürfen. Ebenso ist die Korrespondenz mit
Mitgefangenen untersagt. Keiner inhaltlichen Beschränkung unterliegen
Beschwerdeeingaben an die Aufsichtsbehörde sowie Schreiben an den
Verteidiger. Das Bundesgericht hatte bereits Gelegenheit, das in
§ 53 Abs. 3 VO vorgesehene Verbot von Mitteilungen "ungebührlichen
Inhalts" auf seine Verfassungsmässigkeit zu überprüfen. Es kam dabei zum
Schluss, dass sich die in dieser Bestimmung enthaltene Generalklausel
verfassungsrechtlich nicht beanstanden lasse (BGE 99 Ia 288/89). Es
besteht kein Grund, von dieser Beurteilung abzuweichen.

Erwägung 4

    4.- Erweist sich somit das Verbot der Weiterleitung von Briefen
ungebührlichen Inhalts an sich als mit dem Verfassungsrecht vereinbar,
so ist weiter zu untersuchen, ob die kantonalen Instanzen die vom
Beschwerdeführer an seine Ehefrau gerichteten Briefe zu Recht als
ungebührlich im Sinne von § 53 Abs. 3 VO betrachtet haben.

    Die Bezirksanwaltschaft Horgen bezeichnete die folgenden Sätze als
ungebührlich:

    a) im Brief vom 20. Februar 1975:

    "Gestern ist jedenfalls ein Bezirksanwalt sehr rasch aus seinem Büro
   gelaufen,nachdem er mir erklärt hatte, ich sei selbst schuld, dass meine

    Mutter todkrank im Spital liege. Offenbar fürchtete er um seine

    Gesundheit während der lange vorausgeplanten Ferien. In dieser
Beziehung
   können offenbar auch diese Leute effizient planen."  b) im Brief vom
   25. Februar 1975:

    "Ich habe mich sofort daran gemacht, diesen Brief zu beantworten.

    Als mein Brief Nr. 23 dann fertig war, habe ich ihn selbst zensuriert.

    Du wirst also meine Nr. 23 erst nach Ende meiner

    Untersuchungs-Beuge-Sicherheits- oder Strafhaft erhalten. Frage Zeus
X. (oder sonst
   einen ebenso unwissenden, aber arroganten Juristen) wann dies sein
   wird."  c) im Brief vom 26. Februar 1975:

    "Wieder einmal hat der Rechtsstaat zugeschlagen. Statt mein Verfahren
   zu fördern, hat die Bezirksanwaltschaft nunmehr alle Hände voll zu tun,
   um meine Briefe an Dich wegen ungebührlichen Inhalts zurückzuweisen. Mir
   bleibt wohl nichts anderes, als Dir in Zukunft via

    Staatsanwaltschaft oder gar Bundesgericht zu schreiben. Ich habe zwar
   noch nicht das Vergnügen gehabt, den neuen Mann kennenzulernen; ein
   unbeschriebenes Blatt ist er deshalb aber nicht mehr. Man will mich
   offenbar Mores lehren. Schliesslich habe ich einen angesehenen

    Horgener Bezirksanwalt mal "Gestapo-Y." genannt. Das zahlt man
   mir nun heim. Was dieser neue Herr als ungebührlich empfindet, ist
   einfach lächerlich."

    Die Staatsanwaltschaft führte im Rekursentscheid aus, als ungebührlich
könne auf jeden Fall die Verletzung des durch die gute Sitte gebotenen
Anstandes gelten. Diese Anstandsregeln habe der Rekurrent in allen
zurückbehaltenen Briefen missachtet, indem er jedesmal unsachliche,
in ihrem Ton beleidigende Bemerkungen über die Untersuchungsbeamten
oder den Gerichtspräsidenten, mithin alle diejenigen Untersuchungs- oder
Gerichtsorgane gemacht habe, die sich mit ihm von Amtes wegen zu befassen
hätten. Unter diesem Gesichtspunkt müsse der Inhalt der beanstandeten
Briefe als ungebührlich bezeichnet werden.

    Es trifft zwar zu, dass mit dem Wort "ungebührlich" an sich
ein unanständiges, den nötigen Respekt nicht wahrendes Verhalten
gemeint ist. Der Ausdruck "ungebührlich" in § 53 Abs. 3 VO ist aber -
entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft - nicht schlechtweg in
dieser seiner landläufigen Bedeutung zu verstehen. Nach dem erwähnten
Urteil des Bundesgerichts (BGE 99 Ia 288) dürfen solche Mitteilungen als
ungebührlich betrachtet werden, welche der Vorbereitung von Fluchtplänen
oder Verdunkelungshandlungen dienen könnten oder allenfalls geeignet wären,
die Ordnung des Gefängnisses zu beeinträchtigen. Andere Mitteilungen aber,
die weder den Internierungszweck noch die Anstaltsordnung gefährden, müssen
- wie das Bundesgericht ausführte - von der Kontrollbehörde weitergeleitet
werden, gleichgültig, ob sie den Inhalt dieser Mitteilungen billigt
oder nicht. Damit wurde zum Ausdruck gebracht, dass die in § 53 Abs. 3
VO vorgenommene Einschränkung der verfassungsrechtlich gewährleisteten
Meinungsäusserungsfreiheit nur dann als verhältnismässig gelten kann,
wenn der Begriff "ungebührlich" im erwähnten Sinne ausgelegt wird. Geht
man davon aus, so durften die an die Ehefrau gerichteten Briefe des
Beschwerdeführers nicht zurückbehalten werden, denn es ist offensichtlich,
dass die darin enthaltenen Äusserungen den Zweck der Untersuchungshaft
oder die Ordnung innerhalb des Gefängnisses in keiner Weise gefährden
konnten. Es ist allerdings fraglich, ob die Tragweite des § 53 Abs. 3 VO im
zitierten Entscheid des Bundesgerichts nicht zu eng umschrieben wurde. Es
lässt sich die Ansicht vertreten, dass auch Briefe als "ungebührlich"
zurückbehalten werden dürfen, die krass unanständige Bemerkungen oder
unflätige Beleidigungen enthalten. Wie es sich damit verhält, kann
indes hier offen bleiben, da sich in den beanstandeten Briefen des
Beschwerdeführers keine solchen Stellen finden. Einzig die Bemerkung
im Brief vom 25. Februar 1975, der Präsident eines Bezirksgerichts sei
unwissend und arrogant, könnte überhaupt als ungebührlich in Betracht
fallen, doch wäre es mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit
unvereinbar, wegen einer solchen, in einem an die Ehefrau gerichteten
Schreiben enthaltenen Äusserung den Brief zurückzubehalten.

Erwägung 5

    5.- Für die Beurteilung der Frage, ob die Mitteilungen eines
Untersuchungs- oder Strafgefangenen "ungebührlich" sind, erscheint
es nämlich auf Grund des Proportionalitätsprinzips gerechtfertigt,
wenigstens in einem gewissen Masse auch in Betracht zu ziehen, wer
jeweils zum Empfänger der fraglichen Mitteilungen bestimmt ist. Unter
diesem Gesichtspunkt kann es einem Untersuchungs- oder Strafgefangenen
erlaubt sein, sich in den an seine Ehefrau gerichteten Briefen freier
auszudrücken als in Schreiben, die er andern privaten Adressaten, zum
Beispiel der Redaktion einer Zeitung, zukommen lassen will. Mit Rücksicht
auf die enge Beziehung, die normalerweise zwischen Ehegatten besteht,
darf man wohl einem Untersuchungs- oder Strafgefangenen gestatten,
sich im Briefverkehr mit dem Ehepartner offen auszusprechen, und die
Behörden sollten diese Freiheit der Meinungsäusserung ohne Notwendigkeit
selbst dann nicht einschränken, wenn die Briefe an den Ehepartner
eine unsachliche Kritik an den Behörden enthalten (vgl. Beschluss des
Deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 11. April 1973, publiziert
in BVerfGE 35/1974 Nr. 7). Im zitierten Entscheid erachtete es
das Deutsche Bundesverfassungsgericht sogar als Verstoss gegen die
Meinungsäusserungsfreiheit, das Schreiben eines Untersuchungsgefangenen an
seine Ehefrau, worin dieser unter anderem einen Polizisten als meineidig
bezeichnete, anzuhalten.

    Nach dem Gesagten verletzte die Bezirksanwaltschaft Horgen
den Beschwerdeführer in seiner verfassungsrechtlich geschützten
Meinungsäusserungsfreiheit, indem sie es unterliess, die drei von ihm an
seine Ehefrau gerichteten Briefe weiterzuleiten. Das führt zur Gutheissung
der vorliegenden Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids.