Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 116



101 Ia 116

22. Urteil vom 9. Juli 1975 i.S. X gegen Verwaltungsgericht des Kantons
Aargau und Kanton Aargau. Regeste

    Art. 4 BV; kantonales Steuerrecht, Treu und Glauben.

    1. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes vermag in der
Regel nur eine individuell-konkrete Zusicherung der Verwaltung an den
Bürger eine Abweichung vom Gesetz zu rechtfertigen. Wer sich auf eine
dem Steuergesetz widersprechende Vollziehungsvorschrift der Verwaltung
verlassen und entsprechende Dispositionen getroffen hat, besitzt daher
keinen Anspruch, abweichend vom Gesetz besteuert zu werden (E. 2a).

    2. Ausnahmsweise kann aber auch in Fällen dieser Art der
Vertrauensschutz dem Legalitätsprinzip vorgehen, wenn besondere
Voraussetzungen erfüllt sind (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Art. 214 ZGB bestimmt über die Auflösung des ehelichen Vermögens
bei der Güterverbindung folgendes:

    "Ergibt sich nach der Ausscheidung des Mannes- und Frauengutes ein

    Vorschlag, so gehört er zu einem Drittel der Ehefrau oder ihren

    Nachkommen und im übrigen dem Ehemann oder seinen Erben.

    Erzeigt das eheliche Vermögen einen Rückschlag, so wird er vom Ehemann
   oder seinen Erben getragen, soweit nicht nachgewiesen wird, dass ihn
   die Ehefrau verursacht hat.

    Durch Ehevertrag kann eine andere Beteiligung am Vorschlag oder

    Rückschlag verabredet werden."

    Nach § 1 Abs. 1 des aargauischen Gesetzes über die Erbschafts- und
Schenkungssteuer vom 16. Februar 1922 (EStG) unterliegt der Besteuerung
das Vermögen, das durch gesetzliche Erbfolge, letztwillige Verfügung,
Erbvertrag, Schenkung oder "anderweitige Zuwendung" jemandem zu Eigentum
anfällt. Nähere Vorschriften über die Steuerpflicht und den Gegenstand
der Steuer finden sich in der regierungsrätlichen Vollziehungsverordnung
zum EStG vom 16. Februar 1928 (VVEStG). Gemäss § 2 VVEStG unterliegt
der Besteuerung der "unentgeltliche Vermögensanfall im Sinne von § 1 des
Gesetzes"; als "anderweitige Vermögenszuwendung" (im Sinne von § 1 EStG)
gilt jede Zuwendung durch beidseitig verpflichtenden Vertrag, bei dem die
Verpflichtungen beider Parteien "nicht annähernd gleichwertig" sind. §
4 Abs. 1-3 VVEStG lautet:

    "1 Der Anfall des überlebenden Ehegatten aus dem ehelichen Vermögen
   unterliegt, vorbehältlich der Bestimmung von § 4 Abs. 1 Ziff. 1 des

    Gesetzes, nur insoweit der Steuerpflicht, als er auf erbrechtlicher und
   nicht güterrechtlicher Ausscheidung beruht.

    2 Im Falle der Güterverbindung ist daher steuerfrei, was dem
   überlebenden Ehemann über das Frauengut hinaus verbleibt (Art. 212 des

    Schweizerischen Zivilgesetzbuches), was die überlebende Ehefrau
   zurücknehmen und zurückfordern kann (Art. 213 des Schweizerischen

    Zivilgesetzbuches), sowie was dem überlebenden Ehegatten als Vorschlag
   gehört (Art. 214 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches).

    3 Im Falle der Gütergemeinschaft unterliegt der Besteuerung, was dem
   überlebenden Ehegatten mehr zufällt, als ihm bei der Ausscheidung gemäss
   Art. 225 Abs. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches zukommen würde.

    4 ..."

    (Der in § 4 Abs. 1 VVEStG vorbehaltene § 4 Abs. 1 Ziff. 1 des
Gesetzes gewährt dem Ehegatten einen steuerfreien Abzug in der Höhe
seines Pflichtteils.)

    B.- Die im Kanton Aargau wohnhaften Ehegatten X. schlossen 1958 einen
Ehevertrag mit folgendem Inhalt:

    "1. Als Güterstand wird die Güterverbindung beibehalten. Dagegen
   wird die Vorschlagsverteilung gemäss Art. 214 Abs. 3 ZGB dahin
   abgeändert, dass dem überlebenden Ehegatten bei Auflösung der Ehe
   infolge Todes der gesamte Vorschlag anfällt.

    2. Zur Festsetzung des Vorschlages wird konstatiert, dass der Ehemann
   kein Vermögen in die Ehe eingebracht hat und auch keines erbte. Die

    Ehefrau dagegen hat die ganze Aussteuer in die Ehe eingebracht und
   hat zudem eine Erbschaft von Fr. 75'000.-- gemacht.

    ..."

    Der Ehemann starb am 31. Januar 1974. Die aargauische Steuerverwaltung
veranlagte mit Einspracheentscheid vom 13. September 1974 Frau
X. zu einer Erbschafts- und Schenkungssteuer von Fr. 131'461.10. Sie
brachte von den vorhandenen Aktiven von rund Fr. 2'010'000.-- ausser
der Frauengutsforderung von rund Fr. 187'000.-- und Schulden von
rund Fr. 15'000.-- als Vorschlagsanteil der Ehefrau lediglich den
gesetzlichen Drittel gemäss Art. 214 Abs. 1 ZGB in Abzug, dessen Höhe
sie auf Fr. 607'000.-- festsetzte, und behandelte den Rest von rund
Fr. 1'200'000.-- als "erbschaftssteuerrechtliches Reinvermögen".

    Frau X. führte hiegegen beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau
Beschwerde. Sie vertrat in erster Linie den Standpunkt, sie schulde keine
Erbschaftssteuer, da das fragliche Vermögen nicht kraft Erbrechtes, sondern
aufgrund der ehevertraglichen Vereinbarung über die Vorschlagsteilung auf
sie übergegangen sei und daher nach dem klaren Wortlaut von § 4 VVEStG
nicht der Erbschafts- und Schenkungssteuer unterliege.

    C.- Mit Urteil vom 14. März 1975 wies das Verwaltungsgericht die
Beschwerde ab, im wesentlichen mit der Begründung, dass als "anderweitige
Zuwendung" im Sinne von § 1 EStG auch güterrechtliche Zuwendungen zu
behandeln seien, wenn sie schenkungsähnlichen Charakter hätten, was hier
anzunehmen sei. Der abweichende Wortlaut von § 4 der Vollziehungsverordnung
widerspreche dem Gesetz und sei daher unbeachtlich. Dies habe das
aargauische Obergericht schon in zwei früheren Urteilen in den Jahren
1946 und 1955 festgestellt.

    C.- Frau X. führt hiegegen wegen Verletzung von Art. 4 BV
staatsrechtliche Beschwerde.

    Verwaltungsgericht und Steueramt des Kantons Aargau haben auf
Vernehmlassung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die kantonalen Behörden nehmen an, nach Wortlaut und Sinn von §
1 EStG unterliege jeglicher Vermögensanfall der Besteuerung, sofern er
unentgeltlich sei. Steuerbar seien gegebenenfalls auch güterrechtliche
Zuwendungen, soweit sie schenkungsähnlichen Charakter hätten und daher
als unentgeltlich bezeichnet werden könnten.

    Was die Beschwerdeführerin gegen diese Gesetzesauslegung vorbringt,
schlägt unter dem Gesichtswinkel der Willkür nicht durch. Wie das
Bundesgericht bereits in einem Entscheid vom 11. Februar 1959 (ASA 28,
S. 348 ff.) festgestellt und begründet hat, beruht die von den kantonalen
Behörden geübte Praxis auf einer haltbaren Auslegung von § 1 EStG; es ist
nach Sinn und Wortlaut dieser Gesetzesvorschrift zulässig, gegebenenfalls
auch die ehevertraglich vereinbarte Zuweisung einer über den gesetzlichen
Teil hinausgehenden Vorschlagsquote an den überlebenden Ehegatten der
Steuerpflicht zu unterwerfen, wenn dies nach den konkreten Umständen
einer unentgeltlichen Vermögenszuwendung gleichkommt.

Erwägung 2

    2.- Damit sind jedoch die verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber
dem Vorgehen der aargauischen Behörden noch nicht beseitigt. Die
Beschwerdeführerin weist mit Grund darauf hin, dass die Auslegung, welche
die Steuerbehörden § 1 EStG geben, mit dem Wortlaut von § 4 VVEStG im
Widerspruch steht. Dieser erklärt in Absatz 1 den Anfall des überlebenden
Ehegatten nur insoweit als steuerpflichtig, "als er auf erbrechtlicher
und nicht güterrechtlicher Ausscheidung beruht". In Absatz 2 wird diese
Regel für den Fall der Güterverbindung präzisiert: danach ist u.a. auch
steuerfrei, "was dem überlebenden Ehegatten als Vorschlag gehört (Art. 214
des Schweizerischen Zivilgesetzbuches)". Dass beim Erlass der Verordnung
an die Möglichkeit einer von der gesetzlichen Ordnung abweichenden
Güterausscheidung gedacht wurde, geht aus dem nachfolgenden Absatz 3
hervor, wo für den Fall der Gütergemeinschaft ein diesbezüglicher Vorbehalt
gemacht wird. Absatz 2 enthält keinen entsprechenden Vorbehalt. Nach
Wortlaut und Sinn dieser Verordnungsbestimmung ist der dem überlebenden
Ehegatten zukommende Vorschlag auch dann von der Steuer befreit, wenn
gemäss Art. 214 Abs. 3 ZGB eine von der gesetzlichen Regel abweichende
Vorschlagsteilung vereinbart worden ist. Das Verwaltungsgericht hat
denn auch zu Recht eingeräumt, dass bei Anwendung von § 4 Abs. 1 und 2
VVEStG die Beschwerdeführerin für den ihr aufgrund des Ehevertrages von
1958 gesamthaft zugewiesenen Vorschlag keiner Steuerpflicht unterworfen
wäre. Es vertritt jedoch die Auffassung, diese Verordnungsvorschrift sei
durch die Umschreibung des Steuerobjektes in § 1 EStG nicht gedeckt und
daher insoweit unverbindlich. Die Zuwendung einer über den gesetzlichen
Anteil hinausgehenden Vorschlagsquote sei nur dann von der Steuer befreit,
wenn besondere Gründe dies rechtfertigten, was hier nicht dargetan sei.

    a) Diese Auslegung hält, soweit sie sich auf § 1 EStG stützt, vor
Art. 4 BV stand. Es ist auch richtig, dass sich der Gegenstand der
Steuerpflicht in erster Linie nach dem Gesetz bestimmt und dass die
in einer Vollziehungsverordnung enthaltenen Normen keine Abweichung
vom Gesetz zu rechtfertigen vermögen. Der Steuerpflichtige, der sich
auf eine dem Gesetz widersprechende Verordnungsvorschrift verlassen und
entsprechende Dispositionen getroffen hat, kann sich grundsätzlich nicht
auf Treu und Glauben berufen, wenn ihm gegenüber das Gesetz in seiner
richtigen Auslegung zur Anwendung gebracht wird. Unter dem Gesichtspunkt
des Vertrauensschutzes vermag in der Regel nur eine individuell-konkrete,
d.h. an einen bestimmten Bürger gerichtete und auf einen bestimmten
Fall bezogene Zusicherung der Verwaltungsbehörde eine Abweichung vom
Gesetz zu rechtfertigen (BGE 99 Ib 101; URS GUENG, Zur Verbindlichkeit
verwaltungsbehördlicher Auskünfte und Zusagen, ZBl Bd. 71/1970 S. 473
ff.). Der Bürger, der sich lediglich am Wortlaut generell-abstrakter
Normen orientiert, handle es sich um das Gesetz oder um eine ausführende
Verordnung, muss das Risiko tragen, dass er den wahren Sinn der Norm
nicht erfasst oder die Nichtigkeit einer Vorschrift übersieht. Dies
gilt auch für die Handhabung einer Vollziehungsverordnung, welche die im
Gesetz umschriebenen Voraussetzungen der Steuerpflicht präzisiert oder
konkretisiert. Der Bürger muss in Kauf nehmen, dass die rechtsanwendende
Behörde derartigen Verordnungsvorschriften die Gefolgschaft verweigert,
wenn sie sich als gesetzwidrig erweisen. Der Grundsatz der Legalität
geht insoweit dem Vertrauensschutz des Einzelnen vor, ansonst die
Verwaltung in der Lage wäre, durch dem Gesetzessinn widersprechende
Ausführungsbestimmungen den Willen des Gesetzgebers mit Hilfe des
Vertrauensschutzes zu überspielen.

    b) In besonderen Fällen kann sich aber eine Durchbrechung dieses
Grundsatzes rechtfertigen. So hat das Bundesgericht entschieden, dass sich
die Steuerpflichtigen hinsichtlich der Tragweite einer Steueramnestie
auf die von der Steuerbehörde herausgegebene öffentliche Wegleitung
verlassen dürfen, selbst wenn die darin enthaltenen Zusicherungen
"etwas über die gesetzliche Ordnung hinausgehen" (BGE 91 I 133 ff.). Der
Vertrauensschutz kann in gewissen Fällen somit selbst dann, wenn keine
individuell-konkrete Zusicherung der Verwaltung vorliegt, gegenüber dem
Gebot der Legalität den Vorzug verdienen (GUENG, aaO S. 478; IMBODEN,
Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung 3. A. Bd. 1 Nr. 343 V, S. 225). Eine
derartige Ausnahme drängt sich auch im vorliegenden Fall auf:

    aa) Es entspricht einem legitimen Bedürfnis, dass sich der Bürger bei
Abschluss eines güterrechtlichen Vertrages aufgrund der einschlägigen
Normen über die steuerlichen Folgen seines Vorgehens Aufschluss
verschaffen kann, und es ist auch durchaus zulässig und verständlich,
dass er bei der Gestaltung seiner güterrechtlichen Verhältnisse im Rahmen
des angestrebten Zweckes und des gesetzlich Möglichen nach einer Lösung
sucht, die steuerlich für ihn günstig ist.

    Das EStG umschreibt in § 1 den Gegenstand der Steuer insoweit in sehr
allgemeiner Weise, als es neben dem Vermögensanfall durch gesetzliche
Erbfolge, letztwillige Verfügung, Erbvertrag und Schenkung generell auch
"anderweitige Vermögenszuwendungen" als steuerpflichtig erklärt, ohne
für diesen letzteren Fall die Voraussetzungen näher zu umschreiben. Dass
in sämtlichen in § 1 EStG genannten Tatbeständen die Vermögenszuwendung
unentgeltlich erfolgt sein muss, wird beispielsweise erst durch § 2 der
Vollziehungsverordnung klargestellt, und auch der in § 1 EStG verwendete
Begriff der "anderweitigen Vermögenszuwendung" - als welche das hier
streitige Geschäft qualifiziert wurde - wird einzig in der VVEStG näher
umschrieben. Der durch eine derartige "anderweitige Vermögenszuwendung"
Begünstigte kann sich daher zum vornherein nur an die diesbezüglichen
Bestimmungen der Verordnung halten, wenn er sich über die Frage der
Steuerpflicht Aufschluss verschaffen will. Es besteht somit ein erhöhtes
Bedürfnis nach Schutz des Vertrauens in die Richtigkeit der ausführenden
Vorschriften der VVEStG.

    Anderseits ist die behauptete Gesetzwidrigkeit der fraglichen
Verordnungsvorschrift nicht offensichtlich erkennbar und auch nicht
völlig klar und eindeutig nachweisbar. Der Gesetzgeber verzichtete auf
eine detaillierte Umschreibung der Steuertatbestände und überliess es
offenbar bewusst der zu erlassenden Vollziehungsverordnung, insbesondere
auch die möglichen Fälle "anderweitiger Vermögenszuwendung" im Sinne von §
1 EStG zu konkretisieren und abzugrenzen. Mangels einer klaren Norm des
Gesetzes hatte der Regierungsrat bei der präzisierenden Umschreibung
der Steuertatbestände zum vornherein einen gewissen Spielraum. Die in
der Praxis entwickelten, von § 4 VVEStG abweichenden Grundsätze über die
steuerliche Behandlung der güterrechtlichen Vorschlagszuweisung dürften
zwar dem Sinn des EStG, wie ausgeführt, eher entsprechen, doch ist die vom
Wortlaut der Verordnung abweichende Auslegung des Gesetzes nicht überhaupt
die einzig vertretbare; auch für die in § 4 VVEStG getroffene Regelung
liessen sich einige beachtenswerte Gründe anführen. Jedenfalls hatte der
mit der aargauischen Steuerpraxis nicht vertraute Bürger keinen Anlass,
an der Gesetzmässigkeit von VVEStG zu zweifeln und sich vor Abschluss
eines Gütervertrages nach dem Bestehen einer etwaigen abweichenden Praxis
zu erkundigen.

    bb) Dessenungeachtet müsste die Beschwerdeführerin die vom
Wortlaut der Verordnung abweichende Besteuerung wohl hinnehmen, wenn
die Gesetzwidrigkeit von § 4 VVEStG eben erst entdeckt worden wäre und
mit einer Änderung dieser Ausführungsbestimmung innert tunlicher Frist
gerechnet werden könnte. Es liesse sich allenfalls ohne Verletzung von
Art. 4 BV die Auffassung vertreten, trotz der geschilderten besonderen
Umstände verdiene das Gebot der Legalität vor jenem des Vertrauensschutzes
den Vorzug. Die Frage kann jedoch offen bleiben, denn es tritt im
vorliegenden Fall noch ein weiterer, entscheidender Umstand hinzu,
der jedenfalls die Rechtslage zugunsten der Beschwerdeführerin ändert.
Wie sich aus den im angefochtenen Entscheid angeführten beiden Urteilen
des aargauischen Obergerichts aus dem Jahre 1946 und 1954 (VJS 1946
S. 32 ff. und AGVE 1955 S. 133 ff.) ergibt, ist die Gesetzwidrigkeit der
fraglichen Verordnungsbestimmung der Steuerbehörde des Kantons Aargau
schon seit Jahrzehnten bekannt. Sie hätte daher schon längst Anlass und
Gelegenheit gehabt, beim Regierungsrat eine Anpassung dieser Vorschrift
zu erwirken, um sie mit der tatsächlich geübten Praxis in Einklang
zu bringen und um den Bürger vor irrtümlichen Vorstellungen über die
Steuerfolgen güterrechtlicher Verträge zu bewahren. Wieso dies bis heute
unterblieben ist, ist kaum verständlich. Auch wenn man annimmt, dass die
Unterlassung seitens der verantwortlichen Organe unbeabsichtigt war,
so handelt es sich objektiv doch um ein widersprüchliches Verhalten
der aargauischen Behörde, das mit dem Grundsatz von Treu und Glauben
wie auch mit dem Gebot der Rechtssicherheit unvereinbar ist und gegen
Art. 4 BV verstösst. Es ist durchaus denkbar und glaubhaft, dass die
Beschwerdeführerin und ihr verstorbener Ehemann, wenn ihnen die vom
Wortlaut von § 4 VVEStG abweichende Praxis der Steuerbehörde bekannt
gewesen wäre, die 1958 abgeschlossene Vereinbarung über die besondere Art
der Vorschlagsteilung nicht getroffen oder nachträglich abgeändert und
z.B. einen sofortigen Übergang des Vermögens auf die Nachkommen angeordnet
hätten, um eine zweimalige Besteuerung desselben zu vermeiden. Das
Vorgehen der aargauischen Behörde, welche seit Jahrzehnten zulässt, dass
die Bürger durch gesetzwidrige und daher nichtige, formell aber in Kraft
gebliebene Ausführungsbestimmungen zu einem Steuergesetz irregeführt und
gegebenenfalls dadurch zu steuerlich nachteiligen Dispositionen veranlasst
werden, verstösst gegen die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns. Die
verfassungsrechtliche Sanktion muss im vorliegenden Fall darin bestehen,
dass die Steuerbehörde die Bestimmung von § 4 Abs. 2 VVEStG gegenüber der
Beschwerdeführerin, die sich bei der Gestaltung ihrer güterrechtlichen
Verhältnisse darauf verlassen hatte, zur Anwendung zu bringen hat,
auch wenn dies mit den - immerhin nicht sehr klaren - Vorschriften
des EStG nicht im Einklang stehen mag. Es ist Sache des aargauischen
Regierungsrates, den fraglichen Mangel der Verordnung innert nützlicher
Frist zu beheben, um weitere Konflikte der vorliegenden Art auszuschliessen
und eine lückenlose gesetzmässige Besteuerung zu ermöglichen. In diesem
Sinne ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen.

    Dieses Ergebnis steht zum Bundesgerichtsurteil vom 11. Februar 1959
(ASA 28 S. 348 ff.) nicht in Widerspruch. Das Bundesgericht hatte damals
die hier aufgeworfene Frage ausdrücklich vorbehalten, indem es feststellte,
die vom Obergericht vertretene Rechtsauffassung, § 4 VVEStG müsse mangels
gesetzlicher Grundlage unbeachtet bleiben, sei vom Beschwerdeführer nicht
rechtsgenüglich angefochten worden. Es prüfte dementsprechend lediglich,
ob die geübte Praxis mit § 1 EStG vereinbar war.

    cc) Da die Beschwerde schon aus den dargelegten grundsätzlichen
Erwägungen gutzuheissen ist, brauchen die übrigen Rügen und Einwände,
mit denen die Beschwerdeführerin eine Befreiung von der Steuer bzw. eine
Herabsetzung derselben herbeiführen will, nicht mehr geprüft zu werden.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des
Verwaltungsgerichtes des Kantons Aargau vom 14. März 1975 aufgehoben.