Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 71



100 V 71

19. Urteil vom 8. Juli 1974 i.S. Schaffhauser Allgemeine Krankenkasse
gegen M. und Obergericht des Kantons Schaffhausen Regeste

    Begriff der Heilanstalt (Art. 12 Abs. 2 Ziff. 2 KUVG und Art.
23 Abs. 1 Vo III). Anwendung auf annexe Betriebe einer psychiatrischen
Klinik.

Sachverhalt

    A.- Die früher in der Psychiatrischen Klinik Breitenau tätig gewesene
Psychiatrieschwester Anni Cotti betreut unter zeitweiliger Beihilfe
ihres Ehemannes in zwei von ihr in Schaffhausen gemieteten Wohnungen
mehrere Patienten, die ihr von der genannten Anstalt jeweils zugewiesen
werden. Zu diesen Patienten gehört seit dem 1. Februar 1972 Frau M.,
die vorher in der Klinik Breitenau hospitalisiert gewesen ist. Die
Schaffhauser Allgemeine Krankenkasse verfügte am 29. März 1972, dass sie
der Versicherten für den Aufenthalt "in Familienpflege" (bei Anni Cotti)
keine Leistungen erbringe. Sie stützte ihre Auffassung auf den zwischen
dem Schaffhauser Regierungsrat und dem Kantonalen Krankenkassenverband
Schaffhausen abgeschlossenen, am 1. Januar 1972 in Kraft getretenen Vertrag
über "Aufenthalt und Behandlung von Kassenmitgliedern in der Kantonalen
Psychiatrischen Klinik Breitenau Schaffhausen", der nicht anwendbar ist,
wenn ein Kassenmitglied unter anderem "in Familienpflege plaziert wird".

    Auf Beschwerde hin stellte das Obergericht des Kantons Schaffhausen
in seinem Entscheid vom 18. August 1972 fest, dass sich die Versicherte
nicht in einer Privatfamilie, sondern in einem von der Klinik Breitenau
abhängigen und deren Weisungsbefugnis unterstehenden, fachkundig geführten
Heim aufhalte. Die Vorinstanz verpflichtete deshalb die Krankenkasse, der
Versicherten die im erwähnten Vertrag festgelegten Taxen für stationäre
Behandlung vom 1. Februar 1972 hinweg auszurichten.

    Gegen diesen Entscheid erhob die Krankenkasse
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und vertrat die Auffassung, dass dem von Anni
Cotti geführten Betrieb kein Heilanstaltscharakter zukomme und dass sie
deshalb nicht leistungspflichtig sei. Das Eidg. Versicherungsgericht hielt
dafür, dass die damals vorgelegenen Akten die Feststellung nicht erlaubten,
ob jener Betrieb als Heilanstalt zu qualifizieren sei. Es hob deshalb den
vorinstanzlichen Entscheid auf und wies die Sache zur weitern Abklärung
und neuen Beurteilung an das Obergericht zurück (Urteil vom 3. April 1973).

    B.- Hierauf holte das Schaffhauser Obergericht bei der
Sanitätsdirektion des Kantons Schaffhausen einen Abklärungsbericht
über die Verhältnisse im Betrieb von Anni Cotti und bei der Klinik
Breitenau einen Bericht über den Zustand der Versicherten ein. Gestützt
auf diese Erhebungen gelangte die Vorinstanz zur Überzeugung, "dass
die Pflegestation von Frau Cotti die gesetzlichen Voraussetzungen
einer Heilanstaltsabteilung, die der Behandlung von Kranken unter
ärztlicher Leitung dient, in allen Teilen erfüllt". Die Versicherte
sei eine Patientin, die der Pflege und Behandlung unter ärztlicher
Leitung bedürfe. Die Vorinstanz hiess deshalb die Beschwerde erneut gut,
indem sie die Kasse verpflichtete, der Versicherten "für die stationäre
Behandlung in der Pflegestation von Anni Cotti ab 1. Februar 1972 die
vertraglich festgelegten Tagestaxen für stationäre Behandlung in der
Kantonalen Psychiatrischen Klinik Breitenau, Schaffhausen, zu bezahlen"
(Entscheid vom 2. November 1973).

    C.- Die Kasse lässt auch gegen diesen Entscheid
Verwaltungsgerichtsbeschwerde einreichen mit dem Antrag auf
Wiederherstellung ihrer Verfügung vom 29. März 1972. Zur Begründung wird
im wesentlichen ausgeführt: Beim fraglichen Betrieb handle es sich um
ein privates Erwerbsunternehmen, mit der Folge, dass seine Inhaberin
vom Vertrag mit der Klinik Breitenau jederzeit zurücktreten könne. Im
erwähnten Betrieb würden die Patienten nur betreut und nicht behandelt,
mit Ausnahme allerdings der Beschwerdegegnerin, "die der Pflege und
Behandlung unter ärztlicher Leitung" bedürfe. Gerade auch der Umstand,
dass Anni Cotti zusätzliche Arztbesuche "veranlassen" müsse, spreche
gegen den Heilanstaltscharakter.

    Die Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung hält den Betrieb von Anni
Cotti für "ein Wohn- und Pflegeheim ohne Heilanstaltscharakter". Eine
Pflegerin für 14 Patienten genüge nicht, um Aufgaben wie in einer Klinik
zu erfüllen. Konkrete Angaben über eine spezielle ärztliche Betreuung der
Beschwerdegegnerin würden fehlen. Die in einem Fall wie dem vorliegenden
erforderliche medikamentöse Therapie sei erfahrungsgemäss unkompliziert,
und ärztliche Überwachung im Rahmen ambulanter Behandlung, "wie es
hier effektiv geschieht", sei ausreichend. Das Bundesamt beantragt die
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Damit ein Betrieb als Heilanstalt im Sinn des Art. 12 Abs. 2
Ziff. 2 KUVG qualifiziert werden kann, muss er der Behandlung von Kranken
unter ärztlicher Leitung dienen, über das erforderliche fachgemäss
ausgebildete Pflegepersonal und über zweckentsprechende medizinische
Einrichtungen verfügen. Das Gericht verweist auf sein Urteil vom 3. April
1973 sowie auf BGE 99 V 72.

    Dem Bericht der Klinik Breitenau vom 7. Juli 1972 lässt sich entnehmen,
dass diese selber den Betrieb der Anni Cotti als einen ihr zugehörenden
Annexbetrieb betrachtet, dies im Hinblick darauf, dass die Patienten von
der Breitenau überwiesen, von dieser administrativ erfasst und ärztlich
betreut werden. Die Auskünfte, welche die Vorinstanz inzwischen bei
der kantonalen Sanitätsdirektion eingeholt hat, lassen sich wie folgt
zusammenfassen: Zur Zeit sind bei Anni Cotti 14 Patienten untergebracht,
die an Schizophrenie, chronischer Depression, Schwachsinn, Epilepsie,
Tabo-Paralyse oder chronischer Toxikomanie und Polyneuritis leiden. Alle
Personen sind betreuungsbedürftig, vermögen nicht allein zu leben, brauchen
Medikamente und wären in einem Milieu Gesunder nicht plazierbar. Sie können
aus der Behandlung in der Klinik Breitenau nicht nach Hause entlassen
werden und bedürfen weiterhin der Betreuung durch einen Klinikarzt,
von dem sie - besondere Vorfälle ausgenommen - einmal monatlich besucht
werden. Bei ernsthafter Verschlechterung des Gesundheitszustandes werden
die Patienten ohne Formalitäten wieder in die Klinik zurückgenommen,
deren Leitung sie weiterhin unterstehen. Administrativ gelten sie
als Patienten der Breitenau. Die Medikamente werden von der Klinik
geliefert. Anni Cotti führt einen Rapport über die Kranken, den sie bei
der Arztvisite vorlegt. Zusätzlich orientiert sie wöchentlich einmal oder
mehrere Male telephonisch den Arzt und die Oberschwester. Sie betreut
die Patienten in der Regel allein, verfügt aber während ihrer Freizeit
über eine Ablösung in der Person einer andern ehemaligen Schwester der
Klinik Breitenau. Zur alleinigen Betreuung der 14 Patienten sei Anni
Cotti durchaus imstande, weil es sich um Chronischkranke handle, die
nicht die gleich intensive Behandlung benötigen wie bestimmte andere
Patienten der Klinik Breitenau. Letztere sei für die von Anni Cotti
betreuten Kranken verantwortlich. Die Sanitätsdirektion weist ferner
darauf hin, dass die Chronischkranken einer psychiatrischen Klinik nicht
mehr einer so intensiven Therapie bedürfen, nicht mehr täglich vom Arzt
besucht werden müssen und lediglich eine lockere Beaufsichtigung durch
die diensthabende Schwester benötigen. Dies sei auch bei den Patienten
der Aussenstation Neubrunn der Fall.

    Wenn das kantonale Obergericht bei diesen Gegebenheiten zur Überzeugung
gelangte, die Pflegestation der Anni Cotti erfülle die Voraussetzungen
einer Heilanstaltsabteilung, so ist dies nicht zu beanstanden. Von
dieser vorinstanzlichen Beurteilung abzuweichen, besteht vor allem
auch deshalb kein Anlass, weil die kantonale Sanitätsdirektion selber
die Pflegestation offensichtlich als Heilanstalt bzw. als Abteilung
einer solchen betrachtet. Die Einwände, die gegen diese Qualifizierung
vorgebracht werden, sind nicht stichhaltig. In diesem Zusammenhang mag
darauf hingewiesen werden, dass zwischen der Pflegestation der Anni Cotti
und der Aussenstation Neubrunn der Klinik Breitenau, die auch von der
Sanitätsdirektion erwähnt wird und deren Heilanstaltscharakter unbestritten
ist, keine wesentlichen Unterschiede bestehen. Insbesondere kann - entgegen
der Auffassung der Beschwerdeführerin - für die versicherungsrechtliche
Beurteilung eines Betriebes dieser Art nicht entscheidend sein, ob
der Betriebsleiter zu einer Klinik in einem öffentlichrechtlichen oder
zivilrechtlichen Verhältnis steht und wie lange der Betrieb voraussichtlich
aufrechterhalten bleibt.

Erwägung 2

    2.- Indessen genügt der Aufenthalt in einer Heilanstalt nicht, um
einen Anspruch auf Krankenpflegekosten zu begründen. Die Hospitalisierung
muss im Interesse der kranken Person notwendig sein, wobei auch deren
persönliche Verhältnisse bedeutsam sein können (EVGE 1969 S. 16 und 73).

    Im vorliegenden Fall ist auch diese Voraussetzung erfüllt. Aus dem
vom kantonalen Richter eingeholten Bericht der Klinik Breitenau ist
ersichtlich, dass die Beschwerdegegnerin "auch für den Laien ersichtlich
deutlich krank" ist. Sie bedarf medikamentöser Therapie, die ärztlich
überwacht werden muss. Sie könnte in einem Milieu Gesunder kaum plaziert
werden, da sie sonst "nur noch tiefer in ihrer schizophrenen Kontaktstörung
versinken dürfte". Übrigens gibt auch die Krankenkasse ausdrücklich zu,
ihre Versicherte bedürfe der ärztlichen Behandlung. Daraus erhellt mit
hinreichender Deutlichkeit, dass die Beschwerdegegnerin hospitalisiert
sein muss...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.