Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 6



100 V 6

2. Urteil vom 21. Januar 1974 i.S. Ott gegen Krankenkasse des
Schweizerischen Kaufmännischen Vereins und Versicherungsgericht des
Kantons Solothurn Regeste

    Selbstbehalt und Franchise (Art. 14bis KUVG).

    -  Übergangsrecht: Massgebende Kriterien für die intertemporale
Bestimmung der Kostenbeteiligung.

    - Grundsätze, welche Krankenkassen und Versicherte bei der
Geltendmachung von Arztrechnungen zu beachten haben.

Sachverhalt

    A.- Die Eheleute Karl und Hedi Ott sind bei der Krankenkasse des
Schweizerischen Kaufmännischen Vereins für Krankenpflege versichert. Hedi
Ott war vom 17. September bis 17. Dezember 1971 in ärztlicher
Behandlung bei Dr. O., und am 17. Dezember 1971 wurden beide Ehegatten
von Dr. A. behandelt. Die entsprechenden Arztrechnungen datieren vom
29. Dezember 1971 sowie vom 9. und 25. Februar 1972. Sie wurden Karl Ott
zugestellt, der sie am 16. März 1972 an die Krankenkasse weiterleitete.
Die Kasse erhob gestützt auf die neue Fassung des Art. 25 Abs. 3 Vo V über
die Krankenversicherung für jeden Krankheitsfall eine Franchise von je
Fr. 30.- und überwies Karl Ott den Restbetrag von Fr. 151.--. In diesem
Sinn verfügte die Kasse am 16. Januar und 2. Februar 1973.

    B.- Karl Ott beschwerte sich gegen beide Verfügungen beim
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn. Er machte geltend: Die
Krankenkasse müsse bei der Abrechnung altes Recht anwenden und dürfe daher
bloss eine Franchise von Fr. 5.- und einen Selbstbehalt von 10%, somit
einen Betrag von Fr. 39.10 in Abzug bringen. Daher stehe ihm gegenüber
der Kasse noch ein Guthaben von Fr. 50.90 zu.

    Das kantonale Versicherungsgericht hat die Beschwerde mit Entscheid
vom 15. Mai 1973 abgewiesen: Die Krankenkasse habe seinerzeit bestimmt,
dass für sämtliche bis zum 4. Februar 1972 bei ihr eingehenden Rechnungen
für Behandlungen, die im Jahre 1971 begonnen worden waren, die alte
Franchise-Regelung zu gelten habe. Die fraglichen Arztrechnungen seien
aber erst am 16. März 1972 eingereicht worden.

    C.- Dem Sinne nach erneuert Karl Ott in der gegen diesen Entscheid
gerichteten Verwaltungsgerichtsbeschwerde seinen vorinstanzlichen Antrag
auf Rückerstattung des Betrages von Fr. 50.90. Von der am 4. Februar 1972
abgelaufenen Frist habe er erstmals durch den angefochtenen Entscheid
erfahren.

    Die Kasse beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Auch das Bundesamt für Sozialversicherung trägt auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an. Die von der Krankenkasse getroffene
Regelung sei aus Gründen der administrativen Vereinfachung zulässig und
vom Amt genehmigt worden. Lediglich bei Statutenrevisionen gelte der
Grundsatz, dass Statutenänderungen, welche die Rechte des Versicherten
beschneiden, diesem erst entgegengehalten werden dürfen, nachdem sie ihm
gehörig bekanntgegeben worden sind. Diese Ordnung gelte dort nicht, wo
es - wie bei der Neuregelung der Kostenbeteiligung - um die Durchführung
einer zwingenden bundesrechtlichen Vorschrift gehe.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 14bis Abs. 1 KUVG verpflichtet die Kassen, allen Versicherten
einen Selbstbehalt und den volljährigen Versicherten zudem bei jedem
Krankheitsfall eine Franchise aufzuerlegen. Das Nähere hat der Bundesrat in
der Verordnung V über die Krankenversicherung geregelt. Nach Art. 26 Abs. 1
dieser Verordnung in der bis 31. Dezember 1970 gültig gewesenen Fassung
(vom 7. Juli 1967) hatten die Kassen die Franchise im Normalfall auf
mindestens 5 Franken, höchstens aber auf 10 Franken je Krankheitsfall
festzusetzen. Am 21. Dezember 1970 beschloss der Bundesrat durch
Abänderung der Art. 24 ff. Vo V eine grundsätzliche Neuregelung der
Kostenbeteiligung. Darnach beträgt der Selbstbehalt 10% der von der Kasse
übernommenen Krankenpflegekosten, während die volljährigen Versicherten
eine Franchise von 20 Franken je Krankheitsfall zu übernehmen haben
(Art. 25 Abs. 1 und 2 Vo V); für Versicherte der obern Tarifgruppe beträgt
die Franchise 30 Franken (Abs. 3). Dieser Bundesratsbeschluss ist am 1.
Januar 1971 in Kraft getreten, räumte aber den Krankenkassen eine Frist
zur Anpassung ihrer Statuten und Reglemente bis zum 31. Dezember 1971 ein.

    Die Beschwerdegegnerin hat diese Neuregelung auf den 1. Januar 1972 in
Kraft gesetzt. Sie orientierte ihre Mitglieder darüber durch Zustellung
des neuen Leistungsreglements und eines Zirkularschreibens am 25. Januar
1972. Ausserdem hat die Kasse im Sinne einer internen Übergangsregelung
beschlossen, sämtliche Rechnungen, die bis zum 4. Februar 1972 bei ihr
eintreffen würden und welche im Jahre 1971 begonnene Behandlungen zum
Gegenstand hätten, nach alter Regelung zu behandeln.

Erwägung 2

    2.- Zunächst ist zu prüfen, ob sich das anwendbare Recht nach dem
Zeitpunkt der ärztlichen Behandlung oder nach dem Eingang der betreffenden
Arztrechnung bei der Krankenkasse bestimmt.

    Art. 14bis Abs. 1 KUVG schreibt den Krankenkassen verbindlich
vor, dass sie bei jedem Krankheitsfall dem volljährigen Versicherten
eine Franchise aufzuerlegen haben (unter Vorbehalt der im heutigen
Zusammenhang unbeachtlichen Abs. 2 und 4 desselben Artikels). Für die
Erhebung der Franchise gilt als Krankheitsfall gemäss Art. 26 Abs. 1 Vo
V die "ambulante Behandlung einer oder mehrerer Krankheiten durch den
gleichen Arzt oder Chiropraktor" in einem durch die Verordnungsbestimmung
näher umschriebenen Zeitraum. Dieser allgemeine Grundsatz muss auch dann
gelten, wenn übergangsrechtliche Fragen zu beantworten sind. Würde man
darauf abstellen, wann die Arztrechnung bei der Krankenkasse eingeht, so
müsste sich das anwendbare Recht nach dem rein aleatorischen Zeitpunkt
richten, in welchem der Arzt Zeit findet, die Rechnung zu schreiben.
Dass Rechtsungleichheiten die Folge wären, liegt auf der Hand.

    Ferner ist zu beachten, dass die Krankenkassen nach Art. 28 Vo V
die Franchise "zu Beginn des Krankheitsfalles" erheben können. Diese
Bestimmung wäre völlig systemwidrig, wenn als massgebender Sachverhalt
nicht der Krankheitsfall, das heisst eben die ärztliche Behandlung,
zu betrachten wäre.

    Prinzipiell muss daher für die Bestimmung des anwendbaren Rechts
der Zeitpunkt des Krankheitsfalles, d.h. der Zeitpunkt der ärztlichen
Behandlung als massgebend bezeichnet werden. Ob sich unter gewissen
Voraussetzungen Ausnahmen von diesem Grundsatz rechtfertigen würden,
braucht heute nicht geprüft zu werden, da die ärztlichen Behandlungen
von Karl und Hedi Ott im Jahre 1971 begonnen und beendet worden sind.

Erwägung 3

    3.- Ist somit übergangsrechtlich auf den Zeitpunkt der ärztlichen
Behandlung abzustellen, so muss anderseits den Krankenkassen zugestanden
werden, für die Durchführung dieses Grundsatzes eine rationelle Lösung
zu suchen. Das Gebot einer einfachen Betriebsabwicklung, die eine
rasche Erledigung und darüber hinaus allenfalls noch eine Senkung der
Verwaltungskosten ermöglicht, liegt auch im Interesse der Versicherten. Die
angestrebte Lösung darf indessen die Rechte der Versicherten nicht
übermässig und unnötig einschränken, und sie darf insbesondere andere
Grundsätze, wie jene der rechtsgleichen Behandlung und der Gegenseitigkeit,
nicht verletzen.

    In dieser Sicht kann nicht beanstandet werden, dass eine Krankenkasse
für die Einreichung von Arztrechnungen, die vorjährige Behandlungen
betreffen, einen Termin festsetzt, wenn diese Honorarnoten nach der
altrechtlichen Kostenbeteiligungsregelung abgerechnet werden sollen. Durch
die Wahl dieses Termins dürfen aber die erwähnten Grundsätze nicht
verletzt werden. Insbesondere müssen die Versicherten die objektive
Möglichkeit haben, bis zu dem von der Kasse bestimmten Termin das für
die Wahrung ihrer Rechte.Notwendige vorzukehren.

    Im vorliegenden Fall kann die Frage offen bleiben, ob die
Beschwerdegegnerin die dargelegten Gesichtspunkte genügend berücksichtigt
hat, wenn sie für ihre Versicherten den 4. Februar 1972 als Termin
festsetzte, nachdem sie diese erst am 25. Januar 1972 über die Neuregelung
der Kostenbeteiligung orientiert hatte. Entscheidend ist, dass der
Zeitpunkt des 4. Februar 1972 den Versicherten gar nicht mitgeteilt
worden ist. Der Beschwerdeführer hatte demnach keinen zwingenden Grund,
für die Zustellung der Rechnungen an die Kasse bis zum 4. Februar 1972
besorgt zu sein. Mit dem Vorgehen der Beschwerdegegnerin wurden seine
Rechte offensichtlich ungenügend gewahrt. Die von der Kasse getroffene
übergangsrechtliche Regelung stellt keine sachgerechte Durchführung der
neurechtlichen Art. 24 ff. Vo V dar.

Erwägung 4

    4.- Die Kasse kann sich somit nicht darauf berufen, Karl Ott habe
die Arztrechnungen erst nach dem 4. Februar 1972, also verspätet
eingereicht. Sie ist vielmehr gehalten, auch nach diesem Datum
Arztrechnungen entgegenzunehmen, welche im Jahre 1971 erfolgte Behandlungen
betreffen und deshalb nach alter Regelung zu erledigen sind. Dies gilt
aber nicht auf unbeschränkte Zeit hinaus, sondern die Versicherten sind
verpflichtet, die Honorarnoten innert angemessener Frist, nachdem sie
bei ihnen eingetroffen sind, an die Krankenkasse weiterzuleiten.

    Die heute streitigen Arztrechnungen datieren vom 29. Dezember 1971
sowie vom 9. und 25. Februar 1972, wobei anzunehmen ist, dass sie an einem
der folgenden Tage bei Karl Ott eingegangen sind. Es ist verständlich,
wenn der Beschwerdeführer - zur Vermeidung unnötiger Umtriebe - alle
drei Rechnungen gleichzeitig der Kasse zustellen wollte. Nachdem er die
letzte Rechnung (vom 25. Februar 1972) erhalten hatte, wartete er bis zum
16. März 1972, also noch fast drei Wochen, bis er die Rechnungen an die
Beschwerdegegnerin weitersandte. Obschon an der Grenze des noch Zulässigen
liegend, kann dieses Vorgehen doch nicht als übermässige Verschleppung
qualifiziert werden, welche Kassensanktionen gegenüber dem Beschwerdeführer
rechtfertigen würde. Dessen Verhalten darf nicht losgelöst vom Vorgehen
der Beschwerdegegnerin beurteilt werden, an welcher es in erster Linie
gelegen hätte, ihren Mitgliedern von ihrer übergangsrechtlichen Ordnung
rechtzeitig klare Kenntnis zu geben.

Erwägung 5

    5.- Aus den obigen Darlegungen ergibt sich, dass die Kostenbeteiligung
des Beschwerdeführers an den drei Arztrechnungen vom 29. Dezember 1971
sowie vom 9. und 25. Februar 1972 nach altrechtlicher Regelung beurteilt
werden muss. Es ist Sache der Kasse, die entsprechende Abrechnung
vorzunehmen und das daraus resultierende Mehrguthaben dem Karl Ott zu
überweisen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 15. Mai 1973 sowie die
Kassenverfügungen vom 16. Januar und 2. Februar 1973 werden aufgehoben.

    II. Die Sache geht an die Krankenkasse des Schweizerischen
Kaufmännischen Vereins zurück, damit diese im Sinn der Erwägungen verfahre.