Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 37



100 V 37

10. Urteil vom 3. April 1974 i.S. Iseli gegen Ausgleichskasse des Kantons
Basel-Landschaft und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft
Regeste

    Physiotherapie in Lähmungsfällen (Art. 12 IVG).  Gesetzmässigkeit und
Anwendungsbereich des neuen Art. 2 Abs. 3 IVV.

Sachverhalt

    A.- Die Versicherte (geb. 1951) ist seit dem 8. Lebensjahr wegen
eines Ganglionneuroms paraplegisch (Bericht von Dr. med. D., Oberarzt
der Orthopädischen Poliklinik F. vom 18. Mai 1971). Sie schloss am
2. April 1971 eine kaufmännische Lehre in einer Eingliederungsstätte ab
und arbeitet seit 19. April 1971 als kaufmännische Angestellte (Bericht
der Regionalstelle für berufliche Eingliederung vom 15. Juni 1971). Zur
Erhaltung der Arbeitsfähigkeit muss sie sich ständig einer physio- und
atemtherapeutischen Behandlung unterziehen. Mit Verfügungen vom 23. Juni
1971 und 26. März 1973 lehnte die Ausgleichskasse die Übernahme dieser
medizinischen Vorkehren ab.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft wies eine
von der Versicherten gegen die Verfügung vom 26. März 1973 erhobene
Beschwerde unter Hinweis auf BGE 97 V 45 und 98 V 95 ab (Entscheid vom
22. August 1973).

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die
Versicherte, die Invalidenversicherung habe die Kosten der Heilgymnastik
zur Beseitigung der Kontraktur und Stärkung der Muskulatur sowie der
Atemtherapie zu übernehmen. Zur Begründung verweist sie auf den ab
1. Januar 1973 gültigen Art. 2 Abs. 3 IVV und legt ein Zeugnis von
Dr. med. H., Oberarzt der Orthopädischen Universitätsklinik Basel, vom
11. Juli 1973 auf, der zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit eine 3wöchige
Badekur verordnete.

    Während die Ausgleichskasse die Frage aufwirft, ob gestützt auf
Art. 2 Abs. 3 IVV die ablehnende Verfügung aufrechterhalten werden
könne, schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich,
sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Art. 12 Abs. 2 IVG erteilt dem
Bundesrat die Befugnis, die Massnahmen gemäss Abs. 1 von jenen, die auf
die Behandlung des Leidens an sich gerichtet sind, abzugrenzen. Er kann
zu diesem Zweck insbesondere die von der Versicherung zu gewährenden
Massnahmen nach Art und Umfang näher umschreiben und Beginn und Dauer
des Anspruchs regeln. Von dieser Befugnis hat der Bundesrat in Art. 2
IVV teilweise Gebrauch gemacht. Nach Art. 2 Abs. 1 IVV gelten als
medizinische Massnahmen im Sinne des Art. 12 IVG namentlich chirurgische,
physiotherapeutische und psychotherapeutische Vorkehren, die eine als
Folgezustand eines Geburtsgebrechens, einer Krankheit oder eines Unfalls
eingetretene Beeinträchtigung der Körperbewegung, der SinnesWahrnehmung
oder der Kontaktfähigkeit zu beheben oder zu mildern trachten, um die
Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher
Beeinträchtigung zu bewahren.

    b) In Anwendung dieser Grundsätze hat das Eidg. Versicherungsgericht
in BGE 97 V 45 erklärt, dass bei Lähmungen medizinische Massnahmen,
insbesondere auch solche physiotherapeutischer Natur, so lange zu gewähren
seien, bis der Zustand wesentlicher und dauerhafter Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit eingetreten sei. Medizinischen Vorkehren, deren Erfolg
nicht dauerhaft sei und die der steten Wiederholung bedürften, um das
erreichte Optimum vor einem Nachlassen zu beWahren, fehle der überwiegende
Eingliederungscharakter (S. 48/49). An dieser Rechtsprechung hielt das
Gericht in BGE 98 V 95 fest. Solange in der IVV eine Norm zur Bestimmung
der Leistungsdauer bei Lähmungen und anderen motorischen Funktionsausfällen
fehle, bestehe kein Anlass, dauernd stabilisierende medizinische Vorkehren,
wie sie beispielsweise infolge von Lähmungen indiziert sein könnten,
zu gewähren. Im übrigen sei der Richter nicht befugt, Sonderlösungen für
Lähmungsfälle zu treffen, soweit dies im Gesetz oder in der Verordnung
selber nicht geschehe; denn die Lähmungen seien nur ein Teil im gesamten
Komplex der durch Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall bedingten
motorischen Funktionsausfälle (S. 97/98).

    c) Der im Rahmen der 8. AHV-Revision in Art. 2 IVV eingefügte und
seit 1. Januar 1973 gültige neue Absatz 3 lautet:

    "Wird bei Lähmungen und anderen Ausfällen von motorischen Funktionen
im Rahmen von medizinischen Massnahmen gemäss Absatz 1 Physiotherapie
durchgeführt, so besteht der Anspruch auf diese Massnahme so lange weiter,
als damit die Funktionstüchtigkeit, von der die Erwerbsfähigkeit abhängt,
offensichtlich verbessert oder erhalten werden kann."

    Diese vom Bundesrat gestützt auf die Ermächtigung des Art. 12 Abs. 2
IVG getroffene Umschreibung des Anspruchs auf Physiotherapie bei Lähmungen
und anderen Ausfällen von motorischen Funktionen hält sich im Rahmen des
Art. 12 IVG und ist daher gesetzmässig.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung nahm zu der neuen Norm
im Kreisschreiben vom 29. September 1972 an die Ausgleichskassen
und Invalidenversicherungs-Kommissionen über die Änderungen der
Invalidenversicherung auf dem Gebiet der Eingliederungsmassnahmen im
Zusammenhang mit der 8. AHV-Revision wie folgt Stellung:

    "Die neue Bestimmung von Art. 2 Abs. 3 IVV gestattet es nun,
physiotherapeutische Massnahmen zur Behandlung von Lähmungsfolgen auch dann
zu übernehmen, wenn sie auf die Bewahrung des bisher erreichten, an sich
nicht mehr verbesserbaren Eingliederungszustandes gerichtet sind. Damit
soll verhindert werden, dass die mittels Eingliederungsmassnahmen erreichte
Erwerbsfähigkeit des Versicherten nachträglich wieder in Frage gestellt
wird. Voraussetzung zur Übernahme einer Erhaltungstherapie ist, dass
die physiotherapeutische Massnahme unmittelbar auf die Beeinflussung
der motorischen Funktionen gerichtet ist. Dient sie dagegen der
Behandlung eines sekundären Krankheitsgeschehens (Zirkulationsstörungen,
Skelettdeformitäten, etc.), so fällt eine Leistungspflicht der IV wie
bisher ausser Betracht."

    Nach ständiger Rechtsprechung sind die vom Bundesamt für
Sozialversicherung vorbehaltenen sekundären Krankheitsgeschehen, die eine
Folge der Lähmung darstellen, eindeutig labiles pathologisches Geschehen;
die hiefür notwendigen medizinischen Vorkehren gehören zur Behandlung
des Leidens an sich und gehen nicht zu Lasten der Invalidenversicherung
(EVGE 1962 S. 308; ZAK 1965 S. 282; nicht publiziertes Urteil i.S. Gasser
vom 4. April 1973).

Erwägung 2

    2.- Die paraplegische Beschwerdeführerin bedarf zur Erhaltung der
Funktionstüchtigkeit, von der ihre Erwerbsfähigkeit abhängt, dauernd
physiotherapeutischer Behandlung. Sie erfüllt somit grundsätzlich die
Voraussetzungen, welche Art. 2 Abs. 3 IVV an die Gewährung fortdauernder
stabilisierender Massnahmen zur Bewahrung der Erwerbsfähigkeit in
Lähmungsfällen stellt.

    Da die vorliegenden Akten keinen Aufschluss über den Umfang der
von der Versicherten benötigten Physiotherapie geben, werden sie zu
weiterer Abklärung an die Verwaltung zurückgewiesen. Diese wird in diesem
Zusammenhang auch zu prüfen haben, ob die atemtherapeutische Behandlung,
welche nicht auf die Beeinflussung der motorischen Funktionen gerichtet
ist und somit nicht unter Art. 2 Abs. 3 IVV fällt, nach den von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen als untrennbarer Bestandteil der
Physiotherapie übernommen werden kann (vgl. EVGE 1961 S. 308, 1965 S. 41,
1967 S. 252; ZAK 1969 S. 375).

    Schliesslich hat die Verwaltung zu beachten, dass die von der
Beschwerdeführerin verlangten Leistungen erst vom Inkrafttreten der neuen
Bestimmung, d.h. vom 1. Januar 1973 an gewährt werden können (EVGE 1968
S. 64).

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden die angefochtene Kassenverfügung
vom 26. März 1973 und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons
Basel-Landschaft vom 22. August 1973 aufgehoben.

    II.  . Die Sache wird an die Ausgleichskasse des Kantons
Basel-Landschaft zurückgewiesen, damit diese nach erfolgter Abklärung im
Sinne der Erwägungen neu verfüge.