Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 32



100 V 32

9. Urteil vom 21. Januar 1974 i.S. Hofer gegen Ausgleichskasse des Kantons
Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Medizinische Massnahmen (Art. 12 Abs. 1 IVG).

    Wann geht die Behandlung Jugendlicher wegen Epiphysenlösung des
Oberschenkelknochens zu Lasten der Invalidenversicherung?

Sachverhalt

    A.- Die 1958 geborene Sekundarschülerin Susanne Hofer verspürte
nach einem Skiunfall seit März 1971 linksseitige Knieschmerzen. Eine
Untersuchung im Bezirksspital B. im August 1972 ergab eine deutlich
eingeschränkte Beweglichkeit im linken Hüftgelenk; die Beckenaufnahme
zeigte eine Epiphysiolysis capitis femoris links; die Reposition
scheiterte (Bericht vom 20. Dezember 1972). Am 11. Oktober 1972 wurde in
der orthopädischen Klinik Balgrist wegen einer veralteten Epiphysenlösung
mit Abrutsch von ca. 45o links die Imhäuser-Operation durchgeführt, und
3 Wochen später erfolgte in üblicher Weise die prophylaktische Nagelung
der Gegenseite. Dr. med. K. verneinte im Bericht vom 13. April 1973
die Frage, ob die linksseitige Epiphysenlösung durch den Sturz im Monat
März 1971 ausgelöst worden sei; auf die weitere Frage, ob es sich bei
der Nagelung rechts um eine prophylaktische Massnahme gehandelt habe,
führte er aus, die Ursache der Epiphysenlösung liege meistens in der
Schädigung der Epiphysenlinie; sie sei hormonell bedingt; weil mehr als
65% der Epiphysenlösungen doppelseitig seien, werde in der Klinik Balgrist
die Gegenseite automatisch operiert.

    Mit Verfügung vom 30. April 1973 lehnte die Ausgleichskasse ein
vom Vater der Versicherten gestelltes Gesuch um Gewährung medizinischer
Massnahmen mit der Begründung ab, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
sei die linksseitige Epiphysenlösung auf den Sturz im Monat März 1971
zurückzuführen.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies durch Entscheid
vom 26. Juni 1973 eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der
Vater der Versicherten, die Invalidenversicherung habe die Kosten der
medizinischen Behandlung zu übernehmen. Er verweist auf ein vom ersten
Oberarzt der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist, Dr. med. L.,
erstattetes Gutachten vom 21. August 1973, auf das in den Erwägungen
zurückzukommen sein wird.

    Während die Ausgleichskasse auf eine Stellungnahme verzichtet,
schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg.Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich,
sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Um Behandlung des Leidens
an sich geht es in der Regel bei der Heilung oder Linderung labilen
pathologischen Geschehens. Unter solchen Umständen ist die Vorkehr nicht
unmittelbar auf die Eingliederung gerichtet. Die Invalidenversicherung
übernimmt im Prinzip nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur
stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren,
sofern diese die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten
Erfolges im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen. Bei
nichterwerbstätigen minderjährigen Versicherten ist insbesondere zu
beachten, dass diese als invalid gelten, wenn ihr Gesundheitsschaden
künftig wahrschemlich eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5
Abs. 2 IVG). Nach der Rechtsprechung können daher medizinische Vorkehren
bei Jugendlichen schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung
dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der
Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren in
absehbarer Zeit eine Heilung mit Defekt oder ein sonstwie stabilisierter
Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit
oder beide beeinträchtigt würden. Selbstverständlich müssen auch die
übrigen Voraussetzungen erfüllt sein (BGE 98 V 214 f. mit Hinweisen).

    b) Nach der Rechtsprechung gehen medizinische Vorkehren für eine
durch Sturz bewirkte Epiphysenlösung Minderjähriger nicht zu Lasten der
Invalidenversicherung. Treten im unmittelbaren Anschluss an einen Sturz,
der zu einem solchen Leiden führt, erstmals und heftig Schmerzen auf,
so spricht die überwiegende Wahrscheinlichkeit für die unfallmässige
Entstehung des Leidens. Die notwendigen Behandlungsvorkehren dienen
daher der Heilung der Unfallfolgen und stellen keine medizinischen
Eingliederungsmassnahmen dar (EVGE 1965 S. 253; nicht publizierte Urteile
i.S. Jobin vom 6. Januar 1966 und Stuker vom 1, September 1972). Denn die
Kriterien von Art. 12 Abs. 1 IVG können erst dann angewendet werden,
wenn zuvor die grundsätzliche Abgrenzungsfrage beantwortet ist,
ob nämlich medizinische Vorkehren nicht von vorneherein ins Gebiet
der sozialen Kranken- oder Unfallversicherung fallen (vgl. EVGE 1967
S. 100 ff.). Nach der Abgrenzungsregel, die sich aus der Interpretation
des Art. 12 IVG ergibt, gehört die Behandlung von Unfallfolgen und von
infektiösen Prozessen grundsätzlich in das Gebiet der sozialen Kranken-
und Unfallversicherung (vgl. Art. 2 Abs. 4 IVV). Das gilt ebenfalls für
Vorkehren, die der Behandlung Minderjähriger dienen (EVGE 1969 S. 227).

    c) Hinsichtlich der nicht auf einen Unfall zurückzuführenden
Epiphysiolysis gilt folgendes: Alle operativen Eingriffe, die
nach dem Gleiten des Schenkelkopfes medizinisch indiziert sind,
stellen grundsätzlich Eingliederungsmassnahmen dar. Zwar ist
einzuräumen, dass über den Verlauf des Gleitprozesses nicht einmal eine
Wahrscheinlichkeitsprognose gestellt werden kann, ob er bis zu den schweren
Formen fortschreiten oder innerhalb der Grenze zum Stehen kommt, die die
Funktion der Hüfte noch nicht beeinträchtigt. Die frühere Praxis, nur
Vorkehren in einem fortgeschrittenen Stadium als Eingliederungsmassnahmen
anzuerkennen (EVGE 1963 S. 113, 257), hatte zwar insofern einen formalen
Beweisvorteil für sich, als mit Sicherheit davon ausgegangen werden konnte,
dass ohne Behandlung ein Defektzustand eintreten werde. Die Gefahr einer
die Erwerbsfähigkeit schwer beeinträchtigenden Dauerschädigung erweist
sich jedoch bereits nach dem Beginn des Gleitprozesses als derart gross,
dass ein operativer Eingriff, der nach ärztlicher Auffassung nicht mehr
aufgeschoben werden kann, nach sozialversicherungsrechtlicher Abwägung
überwiegend Eingliederungsmassnahme ist (EVGE 1965 S. 83, 92). Im
übrigen wäre es nicht verständlich, wenn die Invalidenversicherung für
einen einfachen, wegen des noch wenig fortgeschrittenen Gleitprozesses
besonders erfolgversprechenden Eingriff nicht aufkommen würde, um bald
darauf schwere Eingriffe zu übernehmen, welche die Entstehung eines
Defektzustandes oft nicht mehr zu verhindern vermögen.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin verspürte im Anschluss an einen Sturz
beim Skifahren im März 1971 Schmerzen im linken Knie, die im August
1972 zu einer Einweisung ins Spital und schliesslich im Oktober 1972
in der Klinik Balgrist zu der linksseitigen Operation nach Imhäuser
und zu der prophylaktischen Versorgung der rechten Seite führten.
Invalidenversicherungs-Kommission, Vormstanz und Bundesamt für
Sozialversicherung schlossen daraus, dass das Leiden der Versicherten auf
den Skiunfall zurückzuführen sei. Dem steht indessen die Feststellung von
Dr. K. entgegen, der die Frage, ob die Imksseitige Epiphysenlösung durch
den Sturz ausgelöst worden sei, verneint. Wie Dr. L. ausserdem darlegt,
begünstigten der Körperbau sowie das Entwicklungsstadium der im März
1971 knapp 13jährigen Beschwerdeführerin die Voraussetzungen zu einer
Prädisposition für eine Epiphysenlösung, weshalb entgegen der Annahme
der Vorinstanz im Zeitpunkt des Skiunfalles eine schmerzfreie, bereits
vorhandene chronische, noch nicht massiv dislozierte Epiphysenlösung nicht
ausgeschlossen werden kann. Die Schmerzen im Knie - also nicht vornehmlich
in der Hüfte - sind nach Auffassung des Arztes ebenfalls bezeichnend
für dieses Krankheitsstadium; eine traumatisch bedingte Epiphysenlösung
dagegen sei praktisch immer mit starken Hüftschmerzen verbunden.

    Nach den überzeugenden ärztlichen Ausführungen ist ein
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der Epiphysenlösung nicht
erwiesen, sondern nach den Darlegungen des Dr. L. wahrscheinlicher, dass
in Anbetracht des Alters und der Konstitution der Versicherten sich ihr
Leiden - wenn es nicht schon vor dem Unfall vorhanden war - auch ohne
den Sturz entwickelt hätte.

    Diente die linksseitige Operation somit nicht der Heilung von
Unfallfolgen, so kann sie nach dem in Erw. 1 Gesagten als medizinische
Massnahme im Sinne des Art. 12 IVG von der Invalidenversicherung übernommen
werden.

Erwägung 3

    3.- Es fragt sich, ob auch die 3 Wochen später prophylaktisch
vorgenommene Epiphysennagelung rechts als medizinische
Eingliederungsmassnahme zu betrachten ist. Nach der Rechtsprechung kann
ein solcher Eingriff nicht übernommen werden, wenn er erfolgte, bevor es
überhaupt zu einem Gleitprozess gekommen war (EVGE 1965 S. 100). Den
vorhandenen Unterlagen kann in dieser Beziehung nichts entnommen
werden. Die Verwaltung, an welche die Akten zurückgewiesen werden, hat
daher näher abzuklären, wie es sich mit dem Zustand der rechten Hüfte
verhielt. In diesem Zusammenhang wird sie auch zu prüfen haben, ob die
beiden Operationen als Massnahmenkomplex im Sinne der Rechtsprechung
zu bewerten wären (vgl. EVGE 1961 S. 308 ff., 1965 S. 41, 1967 S. 252;
ZAK 1969 S. 375).

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht I. In Gutheissung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichtes des Kantons Bern vom 26. Juni 1973 und die
angefochtene Kassenverfügung vom 30. April 1973 aufgehoben.

    II.  . Die Invalidenversicherung wird verpflichtet, die linksseitige
Operation der Epiphysenlösung als medizinische Massnahme zu übernehmen.

    III.  I. Die Sache wird an die Ausgleichskasse des Kantons Bern
zurückgewiesen, damit diese nach Abklärung im Sinne der Erwägungen über
die Frage der Übernahme der Operation an der rechten Hüfte neu verfüge.