Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 178



100 V 178

45. Urteil vom 16. Dezember 1974 i.S. F. gegen Ausgleichskasse des Kantons
Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 13 und 14 IVG. Rechtliche Beziehungen zwischen
Invalidenversicherung, medizinischen Durchführungsstellen und Versicherten.

Sachverhalt

    A.- Der am 20. September 1952 geborene F. hat wegen Geistesschwäche
verschiedene berufliche Eingliederungsmassnahmen und - auf Anmeldung vom
15. Januar 1973 hin - eine ganze einfache Invalidenrente mit Wirkung ab
1. Oktober 1972 zugesprochen erhalten. Am 10. Dezember 1971 wurde er wegen
einer Oberkieferdeformation bei der Invalidenversicherung angemeldet. Dr.
med. dent. M., Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universität X.,
diagnostizierte starke Form von offenem Biss, Progenie und Makroglossie. Er
erachtete eine Osteotomie und Bisseinstellung im Unter- und/oder Oberkiefer
sowie eine Zungenverkleinerung für notwendig (Bericht vom 17. Januar
1972). Mit Verfügung vom 30. Mai 1972 sprach die Ausgleichskasse dem
Versicherten medizinische Massnahmen zur Behandlung der Geburtsgebrechen
Ziff. 209, 210 und 214 längstens bis zur Volljährigkeit zu. Als
Durchführungsstellen wurden Dr. med. dent. A. und die Klinik für Kiefer-
und Gesichtschirurgie der Universität X. bezeichnet. Dr. M. berichtete am
9. Mai 1973, dass die zum operativen Eingriff notwendigen Voruntersuchungen
vorgenommen worden seien und dass die Operation im Kieferbereich auf Mitte
September 1973 festgelegt worden sei. Der Arzt ersuchte um Verlängerung
der Kostengutsprache bis Ende 1974, damit die Durchführung der geplanten
Operation möglich sei. Aus den von Prof. N. und Dr. M. erstatteten
Berichten vom 3. Oktober und 20. November 1973 geht hervor, dass F. am
12. September 1973 hospitalisiert und am 24. September 1973 operiert
wurde. Die vorgenommene Unterkiefer-Osteotomie und die Zungenverkleinerung
hätten zu einer Verbesserung der Bissverhältnisse geführt und würden
mit den im Bericht vom 17. Januar 1972 erwähnten Geburtsgebrechen
zusammenhangen. Am 9. Januar 1974 verfügte die Ausgleichskasse folgendes:

    "In der Verfügung vom 30.5.1972 wird ausdrücklich festgehalten,
dass die Geburtsgebrechenbehandlung längstens bis zur Erreichung der
Volljährigkeit von der IV übernommen werden kann. Diese Frist lief somit
am 30.9.1972 ab. Die zur Operation notwendigen Voruntersuchungen fanden
aber erst am 20.3.1973 statt; die Operation selber wurde am 24.9.1973
durchgeführt. Die Massnahmen nach Erreichung der Volljährigkeit richten
sich auf die Behandlung des Leidens an sich. Eine Leistungsmöglichkeit
der IV besteht daher leider nicht."

    B.- Beschwerdeweise beantragte der Vater des Versicherten
Übernahme der Operationskosten. Nachdem sein Sohn am 21. November
1971 Prof. N. überwiesen worden sei, könne er die entstandenen Kosten
nicht übernehmen, wenn infolge Überbelastung der Klinik oder infolge
Nichtbeachtung des Termins die Operation erst nach dem 20. Altersjahr
habe vorgenommen werden können.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies durch Entscheid vom
8. März 1974 die Beschwerde unter Hinweis auf BGE 98 V 35 ab. Zudem
stelle auch eine allfällige Überlastung der Klinik keinen Grund für
ein Hinausschieben der Operation nach dem 20. Altersjahr dar, nachdem
die Massnahme nicht vorher zugesprochen worden sei; die neue Anmeldung
datiere nämlich vom 15. Januar 1973. Das Gericht verneinte schliesslich
auch einen Anspruch gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt der
Vater des Versicherten den Antrag, die Invalidenversicherung habe die
Unterkiefer-Osteotomie und die Zungenverkleinerung zu übernehmen. Er macht
geltend, ganz offensichtlich einer falschen Information unterlegen zu sein.

    Während die Ausgleichskasse auf eine Stellungnahme verzichtet,
schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Entgegen der Auffassung der Vorinstanz trifft es nicht zu, dass die
umstrittenen Massnahmen erst nach dem 20. Altersjahr des Beschwerdeführers
zugesprochen worden sind. Die Anmeldung vom 15. Januar 1973 bezog sich
auf medizinische Massnahmen wegen eines Gehirnschadens und auf eine
Rente. Die medizinischen Massnahmen zur Behandlung der Geburtsgebrechen
Ziff. 209, 210 und 214 wurden jedoch mit Verfügung vom 30. Mai 1972,
also vor Erreichen der Volljährigkeit gewährt.

    Im übrigen hat aber der kantonale Richter zutreffend dargelegt,
weshalb der Beschwerdeführer, dessen Geburtsgebrechen nicht vor seiner
Mündigkeit behandelt worden sind, im Sinne von BGE 98 V 35 grundsätzlich
keine Leistungen gemäss Art. 13 IVG beanspruchen kann.

Erwägung 2

    2.- Es fragt sich indessen, ob in Anwendung der in BGE 99 V 152
aufgestellten Grundsätze der Beschwerdeführer der Invalidenversicherung
gegenüber trotz des Fristablaufs Anspruch auf Gewährung der - bereits
durchgeführten - Operationen hat.

    Es ist Sache der Invalidenversicherung, die Durchführungsstelle mit
der Vornahme der bewilligten medizinischen Massnahme zu betrauen. Dadurch
entsteht ein Auftragsverhältnis zwischen der Versicherung und der Stelle,
welche die Eingliederungsmassnahme durchführt; dieses Verhältnis wird
ergänzt durch allfällige spezielle Vereinbarungen, namentlich im Sinne von
Art. 27 IVG. Zwischen der Durchführungsstelle und dem Versicherten fehlt
es in der Regel an direkten Rechtsbeziehungen; insbesondere entstehen
solche nicht bezüglich der im Auftrag der Invalidenversicherung von der
durchführenden Stelle zu erbringenden Leistungen. Das Verhältnis zwischen
der Invalidenversicherung und dem Versicherten richtet sich nach den
Bestimmungen des IVG (BGE 99 V 155 Erw. 3). Daraus folgt, dass im Rahmen
des Auftragsverhältnisses Invalidenversicherung/ Durchführungsstelle einzig
die Versicherung zahlungspflichtig ist. Der Versicherte hat gegenüber
der Invalidenversicherung Anspruch auf die medizinischen Massnahmen,
die Sachleistungen sind und als solche gesamthaft von der Versicherung
angeordnet und bezahlt werden (BGE 99 V 154 Erw. 2). Dem Versicherten
erwachsen im Verhältnis zur Durchführungsstelle keine Verpflichtungen
aus Massnahmen, welche die durchführende Stelle über den Auftrag der
Versicherung hinaus vorgenommen hat, sofern er seinerseits keinen
entsprechenden Auftrag erteilt hat.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall geht es nur um das Rechtsverhältnis zwischen
der Invalidenversicherung und dem Beschwerdeführer. Sein Anspruch auf
medizinische Massnahmen zur Behandlung der Geburtsgebrechen Ziff. 209,
210 und 214 ist mit rechtskräftiger Verfügung vom 30. Mai 1972 bejaht
worden. Die Durchführung dieser Sachleistung war grundsätzlich Aufgabe der
Versicherung, welche dafür dem Versicherten gegenüber verantwortlich ist,
auch wenn sie die Massnahmen im Auftragsverhältnis von Dritten durchführen
lässt (vgl. auch Art. 60 Abs. 2 IVG). Die Invalidenversicherung darf sich
daher für die Verweigerung einer bereits zugesprochenen Massnahme nicht
darauf berufen, dass sie im Durchführungsverfahren eine Frist versäumt hat;
dabei ist es für den Versicherten unerheblich, ob die Fristversäumnis
unmittelbar durch ein Organ der Invalidenversicherung oder durch eine
von ihr beauftragte Durchführungsstelle verursacht worden ist.

    Aus dem Gesagten folgt, dass der Beschwerdeführer der
Invalidenversicherung gegenüber trotz des Umstandes, dass die - vor dem
20. Altersjahr zugesprochenen - medizinischen Massnahmen erst nach der
Volljährigkeit ausgeführt worden sind, Anspruch auf Gewährung dieser
Sachleistungen hat...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer
der Invalidenversicherung gegenüber Anspruch auf Übernahme der mit
Verfügung vom 30. Mai 1972 angeordneten und inzwischen durchgeführten
medizinischen Massnahmen besitzt.