Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 167



100 V 167

42. Urteil vom 5. September 1974 i.S. Candela gegen Ausgleichskasse
Nidwalden und Kantonsgericht des Kantons Nidwalden Regeste

    Eintritt des Versicherungsfalls (Art. 4 Abs. 2 IVG).  Zusammenfassung
der Rechtsprechung. Anspruch eines minderjährigen italienischen
Staatsangehörigen auf Hilfsmittel verneint.

Sachverhalt

    A.- Rosario Candela wurde am 4. Oktober 1966 in Stans als Sohn
italienischer Eltern geboren. Sein Vater war im August 1962 in die
Schweiz eingereist; seine Mutter folgte ihrem Gatten 1965 nach. Im Mai
1967 zog die Familie nach Italien; 1971 kehrte Vater Candela wieder in
die Schweiz zurück; seine Ehefrau und Rosario folgten ein Jahr später.
Im Jahre 1969 wurde in Italien festgestellt, dass Rosario Candela an
Schwerhörigkeit litt; der Arzt verordnete deswegen ein Hörgerät.

    Im Januar 1973 ersuchte der Vater des Knaben um medizinische Massnahmen
der Invalidenversicherung. Prof. Dr. med. G. stellte am 20. Februar 1973
folgende Diagnose:

    "Perzeptionsschwerhörigkeit höhern Grades beidseits. Wahrscheinlich
handelt es sich um ein angeborenes Leiden. Es ist fraglich, ob die
Zangengeburt daran Schuld ist, ich glaube eher nicht. Eine operative
Behandlung kommt nicht in Frage; der Zustand lässt sich durch eine
medizinische Behandlung nicht bessern. Dagegen sind unbedingt pädagogische
Massnahmen notwendig, und zwar:

    1.  Sonderschulung in einem italienisch sprechenden Gebiet
(Schwerhörigenschule).

    2.  Hörgerät."

    Mit Verfügungen vom 16. März 1973 und 18. September 1973 gewährte die
Invalidenversicherung Beiträge an die notwendige Sonderschulung in einer
Schwerhörigenschule und für die pädagogisch-therapeutische Behandlung. Am
25. Oktober 1973 teilte Dr. med. M. der Invalidenversicherungs-Kommission
mit, dass der nun im Schulalter befindliche, normal intelligente Knabe
wegen der starken Schwerhörigkeit die Sonderschule E. besuchen müsse;
um dem Unterricht folgen zu können, benötige er beidseits ein Hörgerät;
der in Italien angeschaffte Apparat habe sich als unzweckmässig erwiesen.

    Mit Verfügung vom 21. November 1973 lehnte die Ausgleichskasse das
Gesuch ab mit der Begründung, hinsichtlich des Hilfsmittels seien die
versicherungsmässigen Voraussetzungen nicht erfüllt; Rosario Candela sei
im Zeitpunkt, als die Schwerhörigkeit festgestellt worden und erstmals
ein Hörgerät notwendig geworden sei, nicht versichert gewesen.

    B.- Das Kantonsgericht des Kantons Nidwalden wies durch Entscheid
vom 13. März 1974 eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert der
Vater von Rosario Candela das Begehren um Abgabe der beiden Hörgeräte
durch die Invalidenversicherung. Allenfalls müssten die Hörapparate als
Massnahme für die Sonderschulung laut Art. 19 Abs. 2 lit. c IVG gelten,
denn dem mit der Sonderschulung verbundenen Hörtraining könne nur mit
dem vom Spezialarzt verordneten Hörgerät gefolgt werden; Sonderschulung
und Versorgung mit Hörgeräten stellten somit eine einzige Massnahme dar;
getrennt genommen, würden beide Eingliederungsmassnahmen zwecklos. - In
einem Nachtrag zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird ferner hervorgehoben,
dass die Eltern bereits in den ersten Lebensmonaten ein "merkwürdiges
passives Verhalten des Kindes" festgestellt und dass sie Schwerhörigkeit
für wahrscheinlich gehalten hätten. Im übrigen müsse zudem mindestens das
2. Hörgerät zugesprochen werden; dass eine stereophone Versorgung nötig
wäre, habe in Italien niemand erkannt. - Ergänzend weist schliesslich die
Pro Infirmis darauf hin, dass die Abgabe eines Hörgerätes an ein Kleinkind
nur dann zweckmässig sei, wenn gleichzeitig mit dem Hörtraining begonnen
werde; folglich sei mit dem Beginn der Sonderschulung der massgebende
Zeitpunkt für die Apparateversorgung gegeben; dieser Zeitpunkt habe daher
auch als Datum des Anspruchsbeginns zu gelten.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist, ob Rosario Candela Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen der schweizerischen Invalidenversicherung
hat. Der Beurteilung dieser Frage ist das seit dem 1. September 1964 in
Kraft stehende schweizerisch-italienische Abkommen über soziale Sicherheit
vom 14. Dezember 1962 zugrunde zu legen. Laut dessen Art. 8 lit. a haben
minderjährige Kinder italienischer Staatsangehörigkeit Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen, solange sie in der Schweiz Wohnsitz haben und
wenn sie sich unmittelbar vor Eintritt der Invalidität ununterbrochen
während mindestens eines Jahres in der Schweiz aufgehalten haben
oder daselbst entweder invalid geboren sind oder sich seit der Geburt
ununterbrochen aufgehalten haben. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass
der Minderjährige Wohnsitz in der Schweiz hat (EVGE 1969 S. 47 ff.).
Die für den Leistungsanspruch massgebenden versicherungsmässigen
Voraussetzungen müssen bei Eintritt der Invalidität verwirklicht sein,
d.h. im Zeitpunkt, in welchem der Gesundheitsschaden die für die Begründung
des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere
erreicht hat (Art. 4 Abs. 2 IVG). Dieser Zeitpunkt ist objektiv auf Grund
des Gesundheitszustandes festzustellen; zufällige externe Faktoren sind
dabei unerheblich. Die Frage des Eintritts der Invalidität beurteilt sich
auch nicht nach dem Zeitpunkt, in dem eine Anmeldung eingereicht oder
von dem an eine Leistung gefordert wird (BGE 98 V 270). Die Invalidität
gilt als in dem Zeitpunkt eingetreten, da sie objektiv Anspruch auf
Leistungen der Invalidenversicherung zu begründen vermag (EVGE 1969
S. 223). Entscheidend ist dabei insbesondere der Zeitpunkt, in welchem
der Versicherte bzw. dessen Vertreter bei der ihm gebotenen Sorgfalt
erstmals Kenntnis davon bekommt, dass der Gesundheitsschaden Anspruch auf
Leistungen der betreffenden Art geben kann (BGE 99 V 209). Bei Hilfsmitteln
entspricht dies dem Zeitpunkt, in welchem der Gesundheitsschaden objektiv
erstmals ein solches notwendig macht (ZAK 1972 S. 671).

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer wurde zwar am 4. Oktober 1966 in der Schweiz
geboren, kehrte aber im Alter von ca.

    6 Monaten mit seinen Eltern nach Italien zurück und reiste erst wieder
1972 in die Schweiz ein. 1969 stellte ein Arzt in Italien den Hörschaden
fest und verordnete ein Hörgerät; der vom Vater des Knaben angeschaffte
Apparat erwies sich jedoch in der Folge als unzweckmässig.

    Nach dem in Erw. 1 Gesagten sind somit die versicherungsmässigen
Voraussetzungen zur Abgabe eines Hilfsmittels durch die schweizerische
Invalidenversicherung nicht erfüllt. Denn es fehlt ein Anhaltspunkt, wonach
die Eltern des Beschwerdeführers das Leiden bereits vor ihrer Rückreise
nach Italien bemerkt oder ärztlich hätten feststellen und behandeln lassen.
Namentlich lässt der Hinweis von Dr. M., wonach die Schwerhörigkeit eines 6
Monate alten Kindes durch die Eltern noch nicht festgestellt werden könne,
die Behauptung als unglaubwürdig erscheinen, die Eltern hätten schon
vor der Ausreise nach Italien gemerkt, "dass mit dem Gehör etwas nicht
stimmt". Den Akten muss vielmehr entnommen werden, dass der Gehörschaden
erst in Italien begründete Veranlassung zu ärztlicher Behandlung und
Beratung gegeben hatte; die Invalidität ist daher eingetreten, als die
Beziehungen zur schweizerischen Versicherung abgebrochen waren.

    Die Pro Infirmis macht allerdings geltend, erst mit dem Beginn der
Sonderschulung sei die Apparateversorgung sinnvoll; somit müsse dieser
Zeitpunkt als Datum der Anspruchsberechtigung gelten. Dieser Auffassung
kann indessen nicht beigepflichtet werden. Denn nach der Verwaltungspraxis
ist Kindern mit hochgradiger Schwerhörigkeit "im Interesse einer optimalen
Ausnützung der Hörreste so früh als möglich ein Hörgerät abzugeben"
(Rz. 107 des Kreisschreibens über die Abgabe von Hilfsmitteln, gültig ab
1. Januar 1969). Die Ausgleichskasse weist im übrigen mit Recht darauf hin,
dass das notwendige Hörtraining nicht der Sonderschulung gleichzusetzen
ist, sondern ebenfalls möglichst früh einzusetzen hat.

    Schliesslich geht es nicht an, Hörgeräte als Massnahme
für die Sonderschulung im Sinne von Art. 19 Abs. 2 lit. c IVG zu
qualifizieren. Hörapparate sind vielmehr Hilfsmittel, wie sie in Art. 21
IVG vorgesehen und in Art. 14 IVV näher umschrieben sind.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.