Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 154



100 V 154

38. Urteil vom 5. September 1974 i.S. Heim gegen Ausgleichskasse des
Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Verjährung der Beitragsforderung (Art. 16 Abs. 1 AHVG).  Verjährte
Beiträge können auch dann nicht nachträglich entrichtet werden, wenn die
Beitragslücke auf ein vorschriftswidriges Verhalten der Ausgleichskasse
zurückgeht. Bedeutung des Grundsatzes von Treu und Glauben in diesem
Zusammenhang.

Sachverhalt

    A.- Margreth Heim wurde mit Wirkung ab Dezember 1972
altersrentenberechtigt. Am 4. Januar 1973 sprach ihr die Ausgleichskasse
zunächst eine ordentliche einfache Altersrente von Fr. 154.--, ab Januar
1973 von Fr. 280.-- im Monat zu. Die Ausrichtung einer Teilrente erfolgte
im Hinblick auf eine von 1948 bis 1956 dauernde Beitragslücke. Auf
Gesuch hin hob die Ausgleichskasse die Verfügung wieder auf und richtete
der Versicherten anstelle der niedrigeren ordentlichen Teilrente eine
ausserordentliche Rente im Betrage von Fr. 220.-- für Dezember 1972 und
Fr. 350.-- ab Januar 1973 aus (Verfügung vom 20. Februar 1973).

    B.- Beschwerdeweise beantragte die Versicherte die Ausrichtung einer
ordentlichen Vollrente. In den Jahren 1948 bis 1956 habe sie kein Einkommen
erzielt. Sie habe sich damals wiederholt bei der AHV-Zweigstelle über
ihre Beitragspflicht erkundigt und jeweils die Antwort erhalten, mangels
eines Verdienstes sei- sie nicht beitragspflichtig. Es gehe nicht an,
dass sie zufolge dieser unzutreffenden Auskunft in ihrem Rentenanspruch
geschmälert werde.

    Mit Entscheid vom 16. Mai 1973 wies das Versicherungsgericht des
Kantons Bern die Beschwerde ab. Auf die Beitragspflicht für die Jahre 1948
bis 1956 könne wegen Verjährung nicht zurückgekommen werden, unabhängig
davon, ob eine falsche Auskunfterteilung vorgelegen habe. Im übrigen
erweise sich die Rentenberechnung als zutreffend.

    C.- Margreth Heim lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben mit
dem Antrag auf Zusprechung einer "ordentlichen AHV-Rente ohne Kürzung
wegen fehlender Beitragsjahre", eventuell "gegen Nachzahlung der Beiträge
für die Jahre 1948 bis 1955". Die Beschwerdeführerin beanstandet, die
Vorinstanz habe es unterlassen, die näheren Umstände der seinerzeitigen
Auskunfterteilung abzuklären. Dieser Sachverhalt sei entscheidend für die
Beurteilung des Falles, da sämtliche Voraussetzungen zu einer vom Gesetz
abweichenden Behandlung im Sinne des Grundsatzes von Treu und Glauben
erfüllt seien: Die Beschwerdeführerin habe sich bei der zuständigen Stelle
über ihre Beitragspflicht erkundigt; die Verwaltung habe ihr vorbehaltlos
die Auskunft erteilt, sie habe keine Beiträge zu leisten; schliesslich habe
sie die Unrichtigkeit der Auskunft nicht erkennen können. Zur Begründung
ihres Begehrens stellt die Beschwerdeführerin verschiedene Béweisanträge,
insbesondere auf Einvernahme von Zeugen; eventuell seien die Akten zur
Beweisergänzung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin anstelle der ihr mit
Verfügung vom 20. Februar 1973 zugesprochenen ausserordentlichen Rente mit
Einkommensgrenze Anspruch auf eine ordentliche Vollrente (Art. 34 AHVG)
hat. Nicht Gegenstand der Beschwerde ist die Berechnung der verfügten
ausserordentlichen Rente, die nach den Ausführungen der Vorinstanz auch
nicht zu beanstanden ist.

    Für den Ausgang des Verfahrens ist entscheidend, ob die Jahre 1948
bis 1956, während welchen von der Beschwerdeführerin zu Unrecht keine
Beiträge erhoben worden sind, nachträglich - eventuell unter Nachzahlung
der Beiträge - als Beitragsjahre anzuerkennen seien.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 16 Abs. 1 AHVG können Beiträge, die nicht
innert 5 Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, für welches sie
geschuldet sind, geltend gemacht werden, nicht mehr eingefordert oder
entrichtet werden. Gemäss ständiger Rechtsprechung zeitigt diese Frist
Verwirkungsfolge. Mit ihrem Ablauf erlischt die Beitragsschuld, ohne dass
eine Naturalobligation bestehen bleibt, die freiwillig erfüllt werden
könnte. Dem Versicherten ist es daher grundsätzlich, ungeachtet der Gründe,
die für das Fehlen von Beiträgen massgebend sind, verwehrt, diese später
als 5 Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, für welches sie geschuldet
sind, noch zu erbringen (EVGE 1955 S. 194, 1958 S. 199; ZAK 1961 S. 226,
1964 S. 85).

    b) Die für die Jahre 1948 bis 1956 geschuldeten Beiträge konnten
demnach spätestens in den Jahren 1953 bis 1961 nachgefordert
werden. Als die Ausgleichskasse im Jahre 1961 auf die fehlenden
Beiträge aufmerksam wurde, verfügte sie eine Nachzahlung mit Wirkung ab
1957. Unter Berücksichtigung dieser Beiträge legte sie im Jahre 1973
der Rentenberechnung eine Beitragsdauer von 15 Jahren (1957 bis 1971)
zugrunde und setzte die Rente nach Skala 17 - bzw. 22 für die Zeit ab
1. Januar 1973 - unter Annahme eines durchschnittlichen Jahreseinkommens
von Fr. 4800.-- auf Fr. 154.-- bzw. Fr. 280.-- fest.

    Bei einer Beitragsdauer der Versicherten von 15 Jahren gegenüber
einer solchen ihres Jahrganges von 24 Jahren wäre nach Art. 52 AHVV für
die Zeit ab 1. Januar 1973 jedoch Rentenskala 21 anwendbar gewesen, was
der Beschwerdeführerin lediglich Anspruch auf eine Rente von Fr. 260.-- im
Monat gegeben hätte. Dies wäre zu beachten, falls die einfache Altersrente
wegen Änderung in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Beschwerdeführerin
künftig als ordentliche Rente zur Ausrichtung gelangen sollte.

    Anderseits hätte sich die Beitragsnachforderung im Jahre 1961 auch
auf die noch nicht verjährte Beitragsschuld des Jahres 1956 erstrecken
sollen. Da der Beitrag für dieses Jahr im Zeitpunkt der Rentenverfügung
ebenfalls verjährt war, ist hierauf jedoch nicht zurückzukommen.

Erwägung 3

    3.- In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beruft sich die
Beschwerdeführerin auf den Grundsatz von Treu und Glauben und macht
geltend, sie habe sich in den Jahren 1948 bis 1950 wiederholt bei der
AHV-Zweigstelle nach ihrer Beitragspflicht erkundigt und die Auskunft
erhalten, mangels eines Einkommens habe sie keine Beiträge zu leisten.

    a) Der Grundsatz von Treu und Glauben, wie er im Verwaltungsrecht
Geltung hat, schützt den Bürger in seinem berechtigten Vertrauen auf
behördliches Verhalten. Er bedeutet unter anderem, dass Verfügungen
auf dem Gebiete der Sozialversicherung so zu gelten haben, wie sie
nach gemeinverständlichem Wortlaut zu verstehen sind, und dass falsche
Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen
eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtsuchenden
gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist eine falsche Auskunft
bindend, wenn die Behörde für die Erteilung der Auskunft zuständig war,
der Bürger deren Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennen konnte, wenn
er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen
hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können, und wenn die
gesetzliche Ordnung seit der Auskunfterteilung keine Änderung erfahren hat
(BGE 99 I b 101, 99 V 8, 97 V 220; EVGE 1967 S. 40).

    b) Ob die genannten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt seien,
lässt sich auf Grund der Akten nicht mit Sicherheit beurteilen. Es ist
nicht auszuschliessen, dass sich die Beschwerdeführerin in der Zeit nach
Inkrafttreten der AHV bei der Zweigstelle über ihre Beitragspflicht
erkundigt hatte und die Auskunft erhielt, sie habe mangels eines
Einkommens keine Beiträge zu entrichten. Spätestens im Jahre 1961,
als die Ausgleichskasse eine Beitragsnachzahlung mit Wirkung ab 1957
verfügte, musste der Beschwerdeführerin indessen klar sein, dass sie
seit 1948 irrtümlicherweise nicht der Beitragspflicht unterstellt worden
war. Auch musste ihr - insbesondere auf Grund der regelmässigen amtlichen
Publikationen (Art. 67 Abs. 2 AHVV) - bekannt sein, dass die fehlenden
Beitragszahlungen die künftige Rentenhöhe beeinflussen würden. Sie kann
sich daher jedenfalls im Leistungsverfahren nicht mehr auf den Grundsatz
von Treu und Glauben berufen, nachdem sie anlässlich der Beitragsverfügung
im Jahre 1961 und auch während der folgenden Zeit Stillschweigen gewahrt
hat.

    c) Des weitern ist zu beachten, dass die Bestimmung von Art. 16 AHVG
auf die Erhaltung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit gerichtet
ist. Wie in der bundesrätlichen Botschaft vom 5. Mai 1953 zur Änderung
von Art. 16 AHVG ausgeführt wurde, muss im Interesse der Rechtssicherheit
und aus verwaltungstechnischen Erwägungen hinsichtlich der einzelnen
Beitragsforderung nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes im Verhältnis
zwischen Versicherung und Beitragspflichtigem "Ruhe eintreten" (BBl 1953
II S. 119). Nachforschungen der Verwaltung und des Richters über weit
zurückliegende Tatsachen sollen vermieden werden. Aus diesem Grunde ist mit
dem Ablauf der in Art. 16 AHVG genannten Fristen die Wirkung des Erlöschens
der Forderung bzw. der Schuld verbunden. Auf Grund dieser Erwägungen
hat das Eidg. Versicherungsgericht wiederholt entschieden, dass eine
verjährte Beitragsschuld selbst dann nicht mehr erfüllt werden kann, wenn
die Beitragslücke auf ein vorschriftswidriges Verhalten der Ausgleichskasse
zurückzuführen ist (EVGE 1958 S. 199, ZAK 1961 S. 227). Insofern tritt das
Vertrauensprinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz gegenüber der unmittelbar
und zwingend aus dem Gesetz sich ergebenden Sonderregelung zurück. Eine
Nachzahlung nicht entrichteter Beiträge kann somit lediglich im Rahmen
der Bestimmung von Art. 16 AHVG erfolgen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.