Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 151



100 V 151

37. Auszug aus dem Urteil vom 6. November 1974 i.S. Ausgleichskasse des
Kantons Luzern gegen Burkart und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Regeste

    Art. 104 lit. a und 105 Abs. 2 OG.
   -  Feststellung des guten Glaubens: Tat- oder Rechtsfrage? (Erw. 2.)

    - Schlussfolgerungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung: Tat- oder
Rechtsfrage? (Erw. 2.)

    Art. 40 Abs. 1 AHVV. Guter Glaube des Beitragspflichtigen, der die
amtliche Belehrung über seine gesetzlichen Pflichten nicht beachtete,
verneint (Erw. 3).

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist, ob die von der Ausgleichskasse am 31. Mai 1972
für die Jahre 1969 und 1970 verfügte Beitragsnachzahlung, welche von
der Vorinstanz bestätigt und von Burkart im Verfahren vor dem Eidg.
Versicherungsgericht nicht mehr bestritten ist, zu erlassen sei.

    Gemäss Art. 40 Abs. 1 AHVV ist Nachzahlungspflichtigen, die in gutem
Glauben annehmen konnten, die nachgeforderten Beiträge nicht zu schulden,
die Nachzahlung ganz oder teilweise zu erlassen, wenn diese für sie
angesichts ihrer Verhältnisse eine grosse Härte bedeuten würde. Die
Rechtsprechung verlangt ausserdem, dass der Erlass die durch diese
Massnahme betroffenen Arbeitnehmer nicht benachteilige (ZAK 1968 S. 686
mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- a) Da im vorliegenden Fall keine Versicherungsleistungen streitig
sind (vgl. BGE 98 V 275 Erw. 2), hat das Eidg. Versicherungsgericht nur
zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt, sein
Ermessen überschritten oder es missbräuchlich gehandhabt hat oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden
ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105
Abs. 2 OG).

    b) Die Vorinstanz hat den guten Glauben des Beitragspflichtigen bejaht
und dazu bemerkt, es handle sich um eine tatbeständliche Feststellung, an
welche das Eidg. Versicherungsgericht laut Art. 105 Abs. 2 OG gebunden sei.

    Diese Auffassung ist indessen unrichtig. Die von der Vorinstanz
festgestellten Umstände, auf Grund derer zu beurteilen ist, ob der gute
Glauben gegeben sei oder nicht, sind für das Eidg. Versicherungsgericht
im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG verbindlich. Die Frage aber, ob
sich der gute Glaube aus jenen Umständen ableiten lasse, ist eine vom
Eidg. Versicherungsgericht zu prüfende Rechtsfrage (vgl. auch BGE 97 II
3 Erw. 3).

    Es kommt hinzu, dass die Vorinstanz hinsichtlich des Erlassgesuches
davon ausging, Burkart habe den fraglichen Barlohn effektiv nicht
ausgerichtet. Zu dieser Annahme gelangte sie auf Grund der allgemeinen
Lebenserfahrung. Nach konstanter Gerichtspraxis ist indes die Frage
nach der Richtigkeit einer aus der allgemeinen Lebenserfahrung gezogenen
Schlussfolgerung eine Rechtsfrage und daher vom Eidg. Versicherungsgericht
frei zu überprüfen (nicht publiziertes Urteil in Sachen Ticozzi vom
10. Mai 1973; BGE 95 II 124 und 169, 89 II 130 Erw. 4, 88 II 469 Erw. 5).

Erwägung 3

    3.- a) Entgegen der Meinung der Vorinstanz liefert die allgemeine
Lebenserfahrung kein schlüssiges Indiz dafür, dass Burkart seinem Sohn den
fraglichen Barlohn effektiv nicht ausgerichtet hat; und ebensowenig lässt
sich dies aus der Annahme ableiten, der Sohn werde voraussichtlich einmal
den väterlichen Hof übernehmen. Konkreter Ausgangspunkt sind vielmehr
die Steuererklärungen, worin der Barlohn als "wahrheitsgetreue" Angabe
deklariert worden war. Inwieweit dabei ein "Irrtum passiert" sein soll,
ist unerfindlich und vor allem auch deswegen unwahrscheinlich, weil
dieser Lohn nicht nur in der Steuererklärung Burkarts, sondern auch in
der vom Sohne selber eingereichten und unterzeichneten Steuererklärung
angegeben wird. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass diese Angaben nicht
der Wirklichkeit entsprechen würden. Es ist mithin davon auszugehen,
dass die Barlöhne effektiv bezahlt wurden.

    b) Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern vertritt die Auffassung,
der Umstand, dass Burkart im November 1971 gegenüber den Steuerbehörden
den fraglichen Barlohn deklariert habe, schliesse den guten Glauben im
Zeitpunkt, in dem die Abrechnung hätte erfolgen sollen, also in den Jahren
1969 und 1970, nicht aus.

    Dieser Argumentation kann schon deswegen nicht gefolgt werden, weil
sich sonst ein Beitragspflichtiger regelmässig auf Gesetzesunkenntnis
berufen könnte, um seinen guten Glauben zu begründen. Dazu kommt, dass
Burkart - wie die Ausgleichskasse unwidersprochen darlegt - mehrmals,
zuletzt 1969, durch das an alle Kassenmitglieder versandte Merkblatt
über die Abrechnungspflicht orientiert worden war. Mit Recht verweist
die Ausgleichskasse auf das in ZAK 1968 S. 686 publizierte Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts in Sachen Stiftung C. vom 10. Juni 1968;
danach kann derjenige, der Weisungen der Ausgleichskasse nicht beachtet,
durch die er über die gesetzlichen Pflichten aufgeklärt wird, sich nicht
darauf berufen, eine dieser Pflichten in gutem Glauben missachtet zu
haben. Wenn Burkart das Merkblatt nicht beachtete, stellt dies eine
Nachlässigkeit dar, welche die Annahme des guten Glaubens ausschliesst...