Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 126



100 V 126

31. Auszug aus dem Urteil vom 18. Juli 1974 i.S. Martin gegen Kantonale
Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel Regeste

    Art 45 VwG. Eine Zwischenverfügung, wonach die Akteneinsicht nicht dem
Versicherten selber, sondern für ihn nur seinem Vertreter gewährt wird,
ist nicht selbständig anfechtbar.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    Gestützt auf einen Bericht der medizinischen Poliklinik X. lehnte
die Invalidenversicherungs-Kommission ein Rentenerhöhungsgesuch des
Versicherten ab, was diesem mit Kassenverfügung vom 30. November 1973
eröffnet wurde.

    Advokat Dr. S. rekurrierte und wendete ein, das Zeugnis der
Poliklinik sei nicht schlüssig. Mit ausführlicher Vernehmlassung
erklärte die Invalidenversicherungs-Kommission, der Versicherte solle
beruflichen Eingliederungsmassnahmen zustimmen, und beantragte Abweisung
der Beschwerde.

    Als der Anwalt die kantonale Rekurskommission ersuchte, ihm die
Vernehmlassung der Invalidenversicherungs-Kommission zur Einsicht zu
senden, verfügte der Vizepräsident der Rekurskommission am 15. März 1974
wie folgt:

    "Dem Vertreter von Paul Martin, Herrn Dr. S., Advokat, wird gegen
Revers Einsicht in die Vernehmlassung der IV-Kommission vom 28.1.1974
gewährt."

    Dr. S. führt rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Er
verlangt, dass die Verfügung des Vizepräsidenten wegen Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 4 BV) aufgehoben und die Vernehmlassung der
Invalidenversicherungs-Kommission seinem Klienten "ohne jede Auflage
zur Einsichtnahme zugestellt werde". Paul Martin müsse sich gegen die
Sozialversicherung wehren können und habe Anspruch darauf, von seinem
Anwalt umfassend orientiert zu werden.

    Die Rekurskommission nimmt wie folgt Stellung:

    "Art. 4 BV erscheint jedenfalls dann nicht verletzt, wenn ein
schützenswertes Interesse einer Einsichtnahme durch den Versicherten
persönlich entgegensteht. Ein solches scheint dann vorhanden zu sein,
wenn in dem strittigen Aktenstück Tatsachen oder Meinungsäusserungen
wiedergegeben sind, die ihrer Natur nach dem Versicherten persönlich
gegenüber geheimzuhalten sind. Hier kommen vorab in Betracht medizinische
Angaben über Diagnose, Prognose - namentlich im Falle einer unheilbaren
Krankheit -, aber auch die Schilderung eines Verhaltens bzw. von
Äusserungen oder Willenserklärungen des Versicherten, die auf einen
eventuellen Mangel an Arbeits- oder Eingliederungswillen schliessen
lassen... Die Akten bieten nun ernsthafte Anhaltspunkte für die Annahme,
dass ein solcher Fall hier vorliegt. Deshalb schien es... geboten, die
Einsicht auf den Vertreter des Versicherten zu beschränken."

    Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt, auf die Beschwerde
nicht einzutreten. Ob die Verfügung ihres Vizepräsidenten zu bestätigen
sei, könne die Rekurskommission ohne Nachteil für den Beschwerdeführer
im Rahmen ihres Urteils entscheiden.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

    Verfahrensleitende oder andere Zwischenverfügungen sind nur dann
selbständig durch Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar, wenn sie einen
nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 45 Abs. 1 und
3 VwG; BGE 98 V 116 Erw. 1).

    Laut Präsidialverfügung der kantonalen Rekurskommission vom 15. März
1974 erhält der Anwalt des Beschwerdeführers die verlangte Einsicht in
die Vernehmlassung der Invalidenversicherungs-Kommission vom 28. Januar
1974 nur "gegen Revers". Darnach soll sich Advokat Dr. S. verpflichten,
seinem Klienten "keine Kenntnis vom Inhalt zu geben und in allfälligen
Rechtsschriften nur allgemein darauf zu verweisen", wie am Schluss jener
Vernehmlassung wörtlich ausgeführt ist.

    Eine solche verfahrensrechtliche Verfügung hat für Paul Martin
keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge. Ob es mit
Art. 4 BV vereinbar sei, die Einsicht in die Vernehmlassung der
Invalidenversicherungs-Kommission dem Beschwerdeführer zu versagen
und seinem Anwalt nur mit der erwähnten Auflage zu gestatten, kann ohne
Rechtsnachteil für Paul Martin das Plenum der kantonalen Rekurskommission
und, wenn dieses bejaht haben sollte, auf Verwaltungsgerichtsbeschwerde
hin das Eidg. Versicherungsgericht entscheiden, wie das Bundesamt für
Sozialversicherung zutreffend darlegt (BGE 99 V 60 f.). Aus diesem
Grunde ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig und daher auf
sie nicht einzutreten.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nicht eingetreten.