Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 114



100 V 114

29. Urteil vom 8. August 1974 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Z. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Nachzahlung von Leistungen (Art. 48 IVG).

    -  Soweit die Anmeldung bei der Invalidenversicherung (Art. 46 IVG)
hinreichend substantiiert ist, bleibt sie während der fünfjährigen
Verwirkungsfrist wirksam.

    - Begriff des anspruchsbegründenden Sachverhalts bei Renten (Art. 48
Abs. 2 Satz 2).

Sachverhalt

    A.- Die 1930 geborene Esther Z. leidet seit 1952 an einer
genuinen Epilepsie mit sekundären schweren Auswirkungen psychischer
und charakterlicher Natur. Sie meldete sich im Januar 1961 bei der
Invalidenversicherung an und ersuchte um medizinische Massnahmen sowie
um einen "Unterstützungsbeitrag an die ausserordentlichen Kosten"
eines Klinik- und Erholungsaufenthaltes, die sich auf über Fr. 1200.--
belaufen würden. Mit unangefochten gebliebener Verfügung vom 9. Juni
1961 lehnte die Ausgleichskasse das Gesuch ab.

    B.- Im Dezember 1971 wurde die 1950 geschlossene Ehe der Versicherten
gemäss Art. 141 ZGB geschieden. Die beiden Kinder, geboren 1952 und 1957,
wurden unter die elterliche Gewalt des Vaters gestellt.

    Mit Anmeldung vom November 1971 ersuchte Esther Z. erneut um
medizinische Massnahmen sowie um eine Rente, welches Gesuch die
Ausgleichskasse hinsichtlich der medizinischen Massnahmen ablehnte
(Verfügung vom 31. Januar 1972).

    Die Invalidenversicherungs-Kommission beschloss am 30. Dezember 1971,
der Versicherten eine ganze einfache Invalidenrente auszurichten; sie
nahm an, die 450 Tage laut Variante 3a des Art. 29 Abs. 1 IVG hätten am
1. Januar 1960 zu laufen begonnen; wegen verspäteter Anmeldung könne die
Rente gemäss Art. 48 Abs. 2 IVG aber erst ab 1. November 1970, d.h. 12
Monate vor der Anmeldung, zugesprochen werden; dieser Beschluss wurde
der Versicherten mit Verfügung vom 23. Mai 1972 eröffnet.

    C.- Beschwerdeweise liess Esther Z. beantragen, es sei ihr die ganze
Rente rückwirkend ab 1. März 1961 zuzuerkennen.

    Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess durch Entscheid
vom 6. März 1973 die Beschwerde teilweise gut, indem es den Rentenbeginn
auf 1. November 1966 festsetzte. Das Gericht ging im. wesentlichen davon
aus, mit der Anmeldung vom Januar 1961 seien auch die Rechte bezüglich
der Rente gewahrt worden;. da die Verwaltung damals fälschlicherweise über
den Rentenanspruch nicht verfügt habe, sei jene Anmeldung weiterhin gültig
geblieben. Mit der neuen Anmeldung vom November 1971 seien die seit März
1961 geschuldeten Leistungen "abgerufen" worden, welche aber wegen Art. 48
Abs. 1 IVG erst vom 1. November 1966 an ausgerichtet werden könnten.

    D.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das
Bundesamt für Sozialversicherung, der kantonale Entscheid sei aufzuheben
und die angefochtene Kassenverfügung wiederherzustellen. Wohl wahre ein
Versicherter mit der Anmeldung grundsätzlich alle zu diesem Zeitpunkt
gegenüber der Versicherung bestehenden Leistungsansprüche (EVGE 1962
S. 342, 1964 S. 189). Das Eidg. Versicherungsgericht habe jedoch im
(nicht publizierten) Urteil i.S. Ugolini vom 5. Oktober 1972 jene Praxis
präzisiert und unter anderem folgendes ausgeführt:

    "... Erlässt die Verwaltung aber auf die Anmeldung hin eine förmliche
Verfügung, welche den Gesuchsteller nicht oder nur zum Teil befriedigt,
dann obliegt es diesem, die Verfügung rechtzeitig anzufechten. Unterlässt
er die Beschwerde, so erwächst die ergangene Verfügung in Rechtskraft mit
der Wirkung, dass die Anmeldung - vorbehältlich des Art. 48 Abs. 2, Satz 2,
IVG - als erledigt zu gelten hat. Die Nichteinlegung eines Rechtsmittels
kommt alsdann hinsichtlich der in der Verfügung nicht eingeschlossenen
Begehren einem konkludenten Verzicht des Versicherten auf die laufenden
Leistungen gleich..."

    Da Esther Z. die ablehnende Verfügung vom 9. Juni 1961 nicht
angefochten habe, sei ein Verzicht auf die Leistungen anzunehmen; dies umso
mehr, als sie bis zur Geltendmachung der Rente 10 Jahre habe verstreichen
lassen. Gestützt auf die Anmeldung vom November 1971 wäre daher eine über
12 Monate rückwirkende Leistungsgewährung (Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG)
nur möglich, wenn die Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt
nicht kennen konnte. Unter dem anspruchsbegründenden Sachverhalt sei der
Gesundheitsschaden zu verstehen, der zu einer Invalidität führen kann oder
eine solche bereits bewirkte. Unbeachtlich sei in diesem Zusammenhang, ob
die Beurteilung der Auswirkungen eines Gesundheitsschadens in der ersten
Zeit auf Schwierigkeiten stosse. Es müsse dann eben auf die möglichen
Feststellungen abgestellt werden; es könne nicht in Frage kommen, dass die
Anmeldefrist erst im Zeitpunkt zu laufen beginne, in dem eine eindeutige
Beurteilung möglich sei.

    Esther Z. lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen. Sie habe 1961 nicht nur medizinische Massnahmen verlangt,
sondern "auch einen Unterstützungsbeitrag (Rente)" beansprucht. Da
das Rentenbegehren nicht rechtskräftig abgelehnt worden sei, habe jene
Anmeldung ihre Wirkung nicht verloren. Die durch die Epilepsie entstandenen
schweren Gesundheitsschäden hätte die Versicherte nicht erkennen können.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist zunächst, ob die Beschwerdegegnerin mit der
Anmeldung im Jahre 1961 ihre Rechte auch hinsichtlich eines allfälligen
Rentenanspruches gewahrt und ob folglich die Verwaltung es zu Unrecht
unterlassen habe, über die Rente zu verfügen.

    a) Die Beschwerdegegnerin macht geltend, sie habe im Januar 1961
neben medizinischen Massnahmen auch eine Rente beansprucht. Davon kann
jedoch keine Rede sein, denn aus dem Anmeldeformular ergibt sich, dass
mit dem "Unterstützungsbeitrag" lediglich um einen Beitrag an die für die
Versicherte unerschwinglichen Kosten für einen Kur- und Erholungsaufenthalt
ersucht worden war. Ist somit das Rentenbegehren weder ausdrücklich noch
sinngemäss gestellt worden, so fragt es sich, ob die Verwaltung gleichwohl
hätte darüber verfügen sollen.

    b) Nach der Rechtsprechung zu Art. 46 IVG wahrt ein Versicherter mit
der Anmeldung an die Invalidenversicherungs-Kommission grundsätzlich
alle seine zu diesem Zeitpunkt gegenüber der Versicherung bestehenden
Leistungsansprüche, auch wenn er diese im Anmeldeformular nicht im
einzelnen angibt (EVGE 1962 S. 342, 1964 S. 189). Dieser Grundsatz
findet indessen nach BGE 99 V 46 keine Anwendung für Leistungen, die
in keinem Zusammenhang mit den sich aus den Angaben des Versicherten
ausdrücklich oder sinngemäss ergebenden Begehren stehen und für welche
auch keinerlei aktenmässige Anhaltspunkte die Annahme erlauben, sie
könnten ebenfalls in Betracht fallen. Denn die Abklärungspflicht der
Invalidenversicherungs-Kommission (vgl. Art. 60 Abs. 1 IVG) erstreckt
sich trotz des erwähnten Grundsatzes nicht auf alle überhaupt möglichen
Leistungsansprüche, sondern nur auf die vernünftigerweise mit dem
vorgetragenen Sachverhalt und allfälligen bisherigen oder neuen Akten im
Zusammenhang stehenden Leistungen. Macht der Versicherte später geltend,
er habe auf eine weitere Leistung Anspruch als die ihm verfügungsmässig
zugesprochenen oder verweigerten und er habe sich hiefür bereits gemeldet,
so ist nach den gesamten Umständen des Einzelfalles im Lichte des
Grundsatzes von Treu und Glauben zu prüfen, ob jene frühere - unpräzise -
Anmeldung schon den später substantiierten Anspruch umfasse. Ist dies zu
verneinen, so können gestützt auf die neue Anmeldung die Leistungen nur
im Rahmen des Art. 48 Abs. 2 IVG rückwirkend zugesprochen werden.

    c) Erscheint dagegen die frühere Anmeldung als hinreichend
substantiiert, so fragt es sich, wie lange diese Anmeldung wirkt. In
BGE 99 V 47 wurde dazu ohne nähere Begründung erklärt, die 5jährige
Verwirkungsfrist seit dieser Anmeldung sei massgebend. Die Vorinstanz
nimmt jedoch an, die Anmeldung entfalte ihre Rechtswirkungen ohne
zeitliche Beschränkung weiter. Das Bundesamt für Sozialversicherung
dagegen hält dafür, dass der Versicherte sich innerhalb von 12 Monaten
bei der Verwaltung zu melden habe, wenn er noch weitere Ansprüche erhebe;
denn auch in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG werde in Fällen, wo der Versicherte
den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte, vorausgesetzt,
dass er die Anmeldung innert 12 Monaten seit Kenntnisnahme vornimmt;
es würde dem Zweckgedanken des Art. 48 IVG besser entsprechen, ginge
man davon aus, der Versicherte habe weitere Ansprüche, die er zwar nicht
ausdrücklich geltend gemacht hat, aber doch erwartet, innert 12 Monaten
seit Erlass der Verfügung zu reklamieren.

    Der Auffassung der Vorinstanz, wonach eine hinreichend substantiierte,
frühere Anmeldung ihre Rechtswirkungen ohne zeitliche Beschränkung
weiter entfaltet, kann nicht beigepflichtet werden. Verwirkungs-
und Verjährungsbestimmungen sind um der Rechtssicherheit willen
namentlich auf dem Gebiete der Sozialversicherung notwendig, wo
die Abklärungsschwierigkeiten mit zunehmendem Zeitablauf ständig
grösser werden. - Auf der andern Seite wirkt sich die vom Bundesamt
für Sozialversicherung vorgeschlagene Lösung in zeitlicher Hinsicht
unbefriedigend aus, denn es gibt Fälle, bei denen die verwaltungsmässige
Abklärung der Anspruchsberechtigung über ein Jahr dauern kann.

    Es rechtfertigt sich daher, an der in BGE 99 V 47 aufgestellten Ordnung
(womit die vom Bundesamt für Sozialversicherung zitierten Ausführungen im
Urteil Ugolini vom 5. Oktober 1972 überholt wurden) festzuhalten, wonach
die 5jährige Verwirkungsfrist seit der früheren Anmeldung massgebend ist,
wenn diese als hinreichend substantiiert erscheint.

    d) Im vorliegenden Fall muss indessen nach den in Erwägung Ib
festgehaltenen Grundsätzen angenommen werden, dass die Beschwerdegegnerin
ihre Rechte bezüglich des Rentenanspruchs mit der Anmeldung vom Januar
1961 nicht gewahrt hat. Diese Anmeldung war deutlich auf den damals
bevorstehenden Klinikaufenthalt und den anschliessenden Erholungsurlaub
gerichtet. Zwar ist einzuräumen, dass die Bemerkung, wonach sich der
Gemüts- und Nervenzustand verschlimmert habe, an eine Behinderung im
Aufgabenbereich als Mutter und Hausfrau hätte denken lassen können. Der
behandelnde Arzt, der die Gesundheitsschädigung der Beschwerdegegnerin
nicht übersah, verneinte indessen ausdrücklich eine Arbeitsunfähigkeit. Die
Invalidenversicherungs-Kommission hatte somit keine Veranlassung, gestützt
auf die Anmeldung vom Januar 1961, womit medizinische Massnahmen verlangt
worden waren, die Rentenfrage zu prüfen.

Erwägung 2

    2.- Weil der Rentenanspruch unbestrittenermassen mehr als 12 Monate
vor der Anmeldung vom November 1971 entstanden war, ist zu untersuchen,
von welchem Zeitpunkt an die Leistungen gestützt auf diese neue Anmeldung
ausgerichtet werden können.

    a) Laut Art. 48 Abs. 1 IVG erlischt der Anspruch auf Nachzahlung
mit dem Ablauf von 5 Jahren seit Ende des Monats, für welchen
die Leistung geschuldet war. Meldet sich jedoch ein Versicherter
mehr als 12 Monate nach Entstehung des Anspruchs an, so werden die
Leistungen lediglich für die 12 der Anmeldung vorangehenden Monate
ausgerichtet. Weitergehende Nachzahlungen werden erbracht, wenn der
Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte
und die Anmeldung innert 12 Monaten seit Kenntnisnahme vornimmt (Abs. 2).

    b) Eine Rückwirkung dieser seit dem 1. Januar 1968 geltenden
Gesetzesnovelle in die Zeit vor dem 1. Januar 1968 ist prinzipiell
ausgeschlossen (EVGE 1968 S. 64; ZAK 1970 S. 133 Erw. 2c, S. 495
Erw. 2). Das bedeutet, dass nach dem neuen Recht keine Rente vor dem
1. Januar 1968 zugesprochen werden darf (nicht publiziertes Urteil
i.S. Gasser vom 19. Januar 1972). Demnach ist der von der Vorinstanz
auf den 1. November 1966 festgesetzte Rentenbeginn zum vorneherein
ausgeschlossen. Falls die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG
erfüllt sind, besteht der Anspruch frühestens ab 1. Januar 1968.
   c) Das Eidg. Versicherungsgericht hat den Begriff des
   anspruchsbegründenden
Sachverhalts bei Renten - im Gegensatz zu Geburtsgebrechen (vgl. dazu
EVGE 1962 S. 249, 369, 1964 S. 270) - noch nicht definiert. Entgegen der
Meinung der Vorinstanz handelt es sich nicht um den Rechtsanspruch auf
eine Rente. Vielmehr ist unter dem anspruchsbegründenden Sachverhalt
in Anlehnung an Art. 4 und 5 IVG der körperliche oder geistige
Gesundheitsschaden zu verstehen, der eine voraussichtlich bleibende
oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit verursacht oder der den
nicht erwerbstätigen Versicherten in seinem bisherigen Aufgabenbereich
beeinträchtigt. Wie das Bundesamt für Sozialversicherung zudem zutreffend
festhält, kann mit der Kenntnis des anspruchsbegründenden Sachverhalts
nicht das subjektive Einsichtsvermögen des Versicherten gemeint sein;
nach dem Wortlaut von Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG ("nicht kennen konnte")
geht es vielmehr darum, ob der anspruchsbegründende Sachverhalt objektiv
feststellbar sei oder nicht.

    d) Der anspruchsbegründende Sachverhalt bestand im Gesundheitsschaden
der Beschwerdegegnerin, der sich einerseits manifestierte als Epilepsie
(Grundkrankheit) und anderseits in deren Folgeerscheinungen psychischer
und charakterlicher Natur. Die Beschwerdegegnerin räumt ein, dass das
Grundleiden als solches von Anfang an sowohl von ihr selbst wie von ihrem
Ehemanne und vom Arzt erkannt worden sei; nicht erkennbar seien aber die
durch die Epilepsie entstandenen weiteren schweren Gesundheitsschäden
gewesen. Erst durch das von Dr. med. K. während des Scheidungsverfahrens
am 26. April 1971 erstattete Gutachten seien diese Folgeerscheinungen klar
zum Ausdruck gekommen; die Anmeldung sei denn auch innert 12 Monaten nach
Kenntnisnahme dieses Gutachtens vorgenommen worden.

    Dieser Argumentation kann indessen nicht gefolgt werden. Denn in der
von ihr unterzeichneten Anmeldung zum Leistungsbezug vom 20. Januar 1961
(Einlageblatt) hat die Beschwerdegegnerin auch auf die Nebenerscheinungen
(Gemüts- und Nervenzustand) ausdrücklich hingewiesen. Zudem kann nach dem
Gutachten von Dr. K. nicht zweifelhaft sein, dass die Beschwerdegegnerin
um ihren Zustand wusste und auch erkannte, dass die Ursache der
Eheschwierigkeiten in ihrem Gesundheitszustand lag. Schon im Zeitpunkt der
Anmeldung im Jahre 1961 konnte daher die Beschwerdegegnerin Kenntnis vom
anspruchsbegründenden Sachverhalt haben; diese Kenntnis bestand somit schon
lange vor November 1970, d.h. 12 Monate vor der Anmeldung im November 1971.

    Die Verwaltung hat nach dem Gesagten mit Recht den Rentenbeginn auf
den 1. November 1970 festgelegt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 6. März 1973 aufgehoben.