Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 109



100 V 109

28. Urteil vom 1. Juli 1974 i.S. Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen
gegen Gschwend und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 19 IVG. Über den Anspruch auf Beiträge an die Sonderschulung,
insbesondere nach dem 18. Altersjahr (Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die am 4. April 1955 geborene Brigitta Gschwend leidet an
congenitaler Hüftluxation und hochgradiger Geistesschwäche. Die
Invalidenversicherung gewährte ihr Beiträge an die Sonderschulung,
ohne dass aber eine ins Gewicht fallende schulische Förderung möglich
gewesen wäre. Hingegen gelang es, sie mit praktischen Arbeiten vertraut
zu machen. Letztmals sprach die Invalidenversicherung der Versicherten
für 1972/73 Sonderschulbeiträge zu. Mit Verfügung vom 9. Februar 1973
eröffnete die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen den Eltern, dass diese
Leistungen nicht über das Frühjahr 1973 hinaus gewährt werden könnten,
weil Verlängerungen über das 18. Altersjahr hinaus nur in ausgesprochenen
Sonderfällen möglich seien, ein solcher Fall vorliegend aber nicht gegeben
sei. Die Kasse stützte ihre Verfügung auf Rz. 40 des Kreisschreibens über
die Sonderschulung.

    B.- Walter Gschwend machte für seine Tochter beschwerdeweise geltend,
es habe sich in letzter Zeit erwiesen, dass die Versicherte sich
arbeitsmässig noch weiter entwickelt und Fortschritte erzielt habe...

    Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat die
Beschwerde mit Entscheid vom 6. September 1973 gutgeheissen und die
Invalidenversicherung verpflichtet, auch für das Schuljahr 1973/74
Sonderschulbeiträge auszurichten: Die bundesamtliche Vorschrift,
wonach Sonderschulbeiträge nur in ausgesprochenen Sonderfällen über
das 18. Altersjahr hinaus verlängert werden dürfen, widerspreche dem
Sinn des Art. 19 Abs. 1 IVG. Leistungsvoraussetzung sei vielmehr die
Notwendigkeit, Sonderschulung auch über das ordentliche Schulalter hinaus
zu gewähren. Diese Voraussetzung sei bei Brigitta Gschwend erfüllt.

    C.- Die Ausgleichskasse erhebt gegen diesen Entscheid
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, indem sie die Wiederherstellung ihrer
Verfügung vom 9. Februar 1973 beantragt. Von einer Weiterführung
der Sonderschulung bis Frühjahr 1974 könnte höchstens noch eine
leichte Verbesserung bei den alltäglichen Lebensverrichtungen erwartet
werden. Dagegen sei mit einem verwertbaren Erfolg im Sinn der Rz. 41, ohne
den die Sonderschulbeiträge einzustellen seien, nicht zu rechnen. Denn
von einem verwertbaren Erfolg könne nur gesprochen werden, wenn der
Versicherte durch die Sonderschulung in die Lage versetzt werde, später
mindestens einen wesentlichen Teil seines Unterhalts zu verdienen. Es wäre
verfehlt, der Beschwerdegegnerin neben der Rente, die sie seit dem 1. Mai
1973 bezieht, noch Sonderschulbeiträge auszurichten. Die Ausgleichskasse
beruft sich auf BGE 99 V 40 (ZAK 1973 S. 518).

    Walter Gschwend hat zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht Stellung
genommen.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung meint, Sonderschulmassnahmen im
Sinn des Art. 8 Abs. 1 lit. a und Abs. 3 IVV seien dann angezeigt, wenn
noch weitere sonderschulische Erfolge zu erwarten oder eingetreten seien,
diese Erfolge real verwertet werden könnten und für eine angemessene und
angepasste erstmalige berufliche Ausbildung die unerlässliche Grundlage
bilden. Anhand der Akten könnte es im vorliegenden Fall sein, dass mit
einem weitern Sonderschuljahr die Fähigkeit zu wirtschaftlich verwertbarer
Arbeit in einer Dauerwerkstätte erreicht würde. Hingegen lasse sich
nicht abschliessend beurteilen, welche erstmalige berufliche Ausbildung
allenfalls in Frage käme. Der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und
die Sache zur Überprüfung des gesamten Fragenkomplexes und zur neuen
Beschlussfassung an die Invalidenversicherungs-Kommission zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 19 Abs. 1 IVG werden an die Sonderschulung
bildungsfähiger Minderjähriger, denen infolge Invalidität der Besuch der
Volksschule nicht möglich oder nicht zumutbar ist, Beiträge gewährt. Diese
am 1. Januar 1971 in Kraft getretene Bestimmung präzisiert ferner,
dass zur Sonderschulung nicht nur die Schulbildung im eigentlichen Sinn,
sondern auch die Förderung in manuellen Belangen, in den Verrichtungen des
täglichen Lebens und der Fähigkeit des Kontaktes mit der Umwelt gehört,
falls ein Unterricht in den Elementarfächern nicht oder nur beschränkt
möglich ist. Der Anspruch auf Sonderschulbeiträge besteht im beschränkten
zeitlichen Rahmen der Minderjährigkeit ohne Rücksicht darauf, ob der
Versicherte bereits das 18. Altersjahr zurückgelegt hat und allenfalls
schon eine Invalidenrente bezieht. Ausschlaggebend dafür, wie lange
die Beiträge zugesprochen werden müssen, ist lediglich die Fähigkeit,
schulisch bzw. manuell in den täglichen Lebensverrichtungen und im
Umweltkontakt gefördert zu werden (BGE 99 V 40 i.S. Posternak).

    Wie das Eidg. Versicherungsgericht im zitierten Urteil im Hinblick
auf Art. 8 Abs. 2 IVG weiter ausgeführt hat, ist der Anspruch auf
Sonderschulbeiträge nicht an die Voraussetzung gebunden, dass der
Versicherte eine Erwerbsfähigkeit erlangen werde. Vielmehr besteht der
Anspruch auch dann, wenn die Ausbildung geeignet ist, das Abhängigsein
des Versicherten in den täglichen Verrichtungen zu vermindern, auch
wenn wahrscheinlich nie mit irgendeiner Erwerbstätigkeit gerechnet
werden kann. Indessen ist die Verwaltungspraxis mit der Gewährung von
Sonderschulbeiträgen an Minderjährige über 18 Jahren zurückhaltend,
weil in diesem Alter ein Anspruch auf Rente und Hilflosenentschädigung
entstehen kann. Sie ist bestrebt, Sonderschulbeiträge bei Versicherten
zwischen dem 18. und 20. Altersjahr auf jene Fälle zu beschränken, bei
denen noch Aussicht auf einen realen Erfolg der Eingliederungsmassnahmen
besteht. Das Gericht hat erklärt, dass diese Praxis mit den Zielen und
den Prinzipien des gesetzlichen Systems übereinstimmt. Daraus leitet
die Ausgleichskasse im vorliegenden Fall ab, dass Sonderschulbeiträge
an Versicherte über 18 Jahren nur gewährt werden dürften, wenn sie
dem Leistungsansprecher zu einer Ausbildung und damit zu einer spätern
Tätigkeit verhelfen, die ihm erlauben werde, einen wesentlichen Teil seines
Unterhalts selber zu verdienen. Und nach Auffassung des Bundesamtes müssen
noch weitere sonderschulische Erfolge zu erwarten oder eingetreten sein,
die sich real verwerten lassen und für eine angemessene und angepasste
erstmalige berufliche Ausbildung die unerlässliche Grundlage bilden. Kasse
und Bundesamt übersehen aber, dass das Eidg. Versicherungsgericht im
Urteil Posternak den Anspruch der 17 1/2jährigen Versicherten, für die
eine künftige Erwerbstätigkeit ebenfalls nicht in Betracht kam, keineswegs
grundsätzlich verneinte, sondern lediglich fand, die noch zu erwartende
Verbesserung der Fähigkeit, die Verrichtungen des täglichen Lebens zu
meistern, sei offensichtlich zu bescheiden, als dass von einem realen
Erfolg der Eingliederungsmassnahmen gesprochen werden könnte, der geeignet
wäre, die persönliche Selbständigkeit merklich zu verbessern. Das Gericht
erachtete demnach den realen Erfolg nicht nur im Hinblick auf eine spätere
Erwerbstätigkeit, sondern auch bezüglich der Verrichtungen des täglichen
Lebens als massgebend. Dies steht im Einklang mit dem Sinn und Zweck des
Art. 19 IVG, der auf eine grösstmögliche Förderung der Minderjährigen
durch Sonderschulmassnahmen abzielt, die unter Umständen sogar geeignet
sein können, im Falle voraussehbarer vollständiger Erwerbsunfähigkeit
die Gewährung einer Hilflosenentschädigung überflüssig zu machen.

    Um Missverständnisse zu vermeiden, sei die im Urteil Posternak
dargelegte Rechtsprechung wie folgt präzisiert: Minderjährigen über 18
Jahren sind Beiträge an die Sonderschulung zu gewähren, sofern diese
Massnahme einen realen Erfolg erwarten lässt. Dies trifft zu, wenn die
in diesem Alter erfolgte Sonderschulung wahrscheinlich geeignet ist,
den Versicherten im Hinblick auf eine künftige Erwerbstätigkeit oder
in seiner Selbständigkeit in den täglichen Lebensverrichtungen und
der Fähigkeit zum Kontakt mit der Umwelt erheblich und dauerhaft zu
fördern. Daraus ergibt sich, dass die in Rz. 40 des Kreisschreibens
vom Januar 1968 vorgesehene Beschränkung der Sonderschulbeiträge auf
"ausgesprochene Sonderfälle" zu weit geht und für die Beurteilung des
Anspruchs der achtzehn- bis zwanzigjährigen Versicherten auf solche
Leistungen keine geeignete Grundlage bildet. Dasselbe gilt von Rz. 41,
wonach die Sonderschulbeiträge einzustellen sind, wenn von der Fortsetzung
des Sonderschulunterrichts keine "verwertbaren Erfolge" mehr zu erwarten
sind. Diese Formulierung zielt offensichtlich auf die wirtschaftliche
Verwertbarkeit der vom Minderjährigen zu erlangenden Fähigkeiten ab, ein
Kriterium, das nach dem Gesagten für den Anspruch auf Sonderschulbeiträge
nicht allein entscheidend ist.

Erwägung 2

    2.- In ihrem Schulbericht führt die zuständige Gruppenleiterin
der Heilpädagogischen Schule H. aus, die Beschwerdegegnerin habe, ihren
Fähigkeiten entsprechend, Fortschritte erzielt. Sie könne ganz ordentlich
Haushaltarbeiten verrichten. Auch vermöge sie recht gut zu stricken und
zu weben. In allen Arbeiten könnte sie noch gefestigt werden. Da sie guten
Willens sei, lasse sich noch mehr erreichen. Und die Schulleiterin bemerkt
unter anderem: Ein zusätzliches Jahr an der Heilpädagogischen Schule würde
wohl noch zum Erstarken der eher schwächlich konstituierten Versicherten
beitragen. Sie wäre dann einer Arbeit in einem Werkheim eher gewachsen.

    Daraus ist zu entnehmen, dass Brigitta Gschwend anscheinend in ihren
manuellen Fähigkeiten noch weiter gefördert werden kann. Ob aber ein
realer, das heisst erheblicher und dauernder Erfolg in Aussicht steht,
ist aus den Akten nicht ersichtlich. Dies abzuklären ist Aufgabe
der Invalidenversicherungs-Kommission, die über den Anspruch auf
Sonderschulbeiträge für das Jahr 1973/74 neu beschliessen wird.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird dahin gutgeheissen, dass der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 6. September 1973
sowie die Kassenverfügung vom 9. Februar 1973 aufgehoben werden und
die Sache an die Ausgleichskasse zurückgewiesen wird, damit diese, nach
erfolgter Aktenergänzung im Sinn der Erwägungen, über den Anspruch auf
Sonderschulbeiträge für 1973/74 neu verfüge.