Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 94



100 IV 94

25. Urteil des Kassationshofes vom 26. März 1974 i.S. Staub gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 45 Abs. 2 VRV.

    Mündet eine Nebenstrasse trichterförmig in eine vortrittsberechtigte
Hauptstrasse ein, so darf auch die aus der Nebenstrasse kommende
Strassenbahn bis zur markierten Grenzlinie zwischen Haupt- und Nebenstrasse
fahren, ohne die auf der Hauptstrasse verkehrenden Fahrzeuge in der
Ausübung ihres Vortrittsrechtes zu behindern.

Sachverhalt

    A.- a) Die Seftigenstrasse in Bern beschreibt an der Stelle, wo von
Südwesten die Weissensteinstrasse in sie einmündet, nach Osten hin,
eine grosse Linkskurve. Der nördlich dieser Einmündung liegende Ast
der Seftigenstrasse ist durch eine weiss schraffierte, breite Fläche
gemäss Art. 54 Abs. 5 SSV in zwei Fahrbahnen unterteilt; die eine
Abrundung dieser Fläche weist gegen die Weissensteinstrasse. Durch
diese schraffierte Fläche führen beide Geleise der die Seftigenstrasse
befahrenden städtischen Strassenbahn. Die Projektion der beiden Randlinien
der Weissensteinstrasse in die Seftigenstrasse ist durch eine weisse Rand-
bzw. Begrenzungslinie im Sinne von Art. 53 Abs. 5 SSV (Markierung No 409
und 410) am Boden markiert. Die nördliche Begrenzungslinie führt dabei
über die ganze Seftigenstrasse - also auch über das Strassenbahngeleise -
bis zu deren nördlichem Rand. Die Weissensteinstrasse und der südliche
Teil der Seftigenstrasse bilden dadurch einen Strassenzug. Dieser ist
als Hauptstrasse mit Vortrittsrecht signalisiert (Signal No 307).
Dementsprechend ist für die südliche Fahrbahnhälfte der Seftigenstrasse
vor der Einmündung der Weissensteinstrasse das Vortrittsrecht durch das
Signal No 116 aufgehoben.

    b) Am 13. November 1972 führte Staub einen Strassenbahnzug langsam von
Norden her über die schraffierte Fläche der Seftigenstrasse. In diesem
Augenblick gewahrte er den einen Lieferwagen lenkenden Kilcher, der aus
der Weissensteinstrasse um die Spitze der schraffierten Fläche herum in die
nördliche Fahrbahn der Seftigenstrasse einspurte. Da Kilcher den von rechts
aus der Seftigenstrasse kommenden Fahrzeugen den Vortritt zu lassen hatte,
beobachtete er vorwiegend nach rechts und erblickte die von links kommende
Strassenbahn erst im letzten Augenblick. Die beiden Fahrzeuge stiessen
zwischen der schraffierten Fläche und der nördlichen Markierung der
Verlängerung der Weissensteinstrasse zusammen, wobei Sachschaden entstand.

    Mit Strafmandat des Gerichtspräsidenten VI von Bern vom 9. April 1973
wurde Staub wegen Nichtgewährung des Vortrittsrechts im Sinne von Art. 15
Abs. 1 und 45 Abs. 2 VRV mit Fr. 50. - gebüsst.

    B.- Auf Einsprache wurde Staub vom Gerichtspräsidenten VI von Bern am
28. Juni 1973 der Übertretung von Art. 45 Abs. 2 VRV schuldig erklärt;
in Anwendung von Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG wurde von einer Bestrafung
Umgang genommen, da sich ergeben hatte, dass die Strassenbahnführer auf
Weisung der Direktion der Städtischen Verkehrsbetriebe nicht nur bis zum
Ende der weiss-schraffierten Zone, sondern bis zur Markierungslinie zu
fahren hatten, um dem auf dem Strassenzug Weissenstein-/Seftigenstrasse
zirkulierenden Verkehr den Vortritt zu lassen.

    Auf Appellation des Verurteilten hin bestätigte das Obergericht des
Kantons Bern am 15. November 1973 den erstinstanzlichen Schuldspruch,
sah von einer Bestrafung des Staub aus dem dargelegten Grunde jedoch ab,
indem es ihm Rechtsirrtum im Sinne von Art. 20 StGB zugute hielt.

    C.- Staub führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag
auf Freisprechung.

    D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt die Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer den auf der
Weissenstein-/Seftigenstrasse verkehrenden Fahrzeugen gemäss Art. 45 Abs. 2
VRV den Vortritt zu lassen hatte. Dies ist durch die Signalisierung
des genannten Strassenzuges als Hauptstrasse mit Vortrittsrecht
(Signal No 307) sowie durch die Aufhebung des Vortrittsrechts für
den aus dem nördlichen Zweig der Seftigenstrasse herkommenden Verkehr
(Signal No 116) deutlich gemacht. Streitig ist indessen, bis wo die aus
der nördlichen Seftigenstrasse kommende Strassenbahn fahren darf, ohne
den sich auf dem Strassenzug Weissenstein-/Seftigenstrasse bewegenden
Verkehr in der Ausübung seines Vortrittsrechts zu behindern. Während
die kantonalen Instanzen der Auffassung sind, sie müsse bei der Spitze
der weiss-schraffierten Fläche im nördlichen Teil der Seftigenstrasse
warten, damit den aus der Weissensteinstrasse einmündenden Fahrzeugen
das Einspuren nach Norden in die Seftigenstrasse nicht erschwert werde,
macht der Beschwerdeführer geltend, sie dürfe bis zur markierten Linie
vordringen, die den erwähnten Strassenzug begrenzt.

Erwägung 2

    2.- Nach ständiger Rechtsprechung steht das Vortrittsrecht dem
Berechtigten auf der ganzen Fläche zu, auf der sich die zusammentreffenden
Strassen überschneiden, wobei sich die Ausdehnung dieser Fläche nach
den beiden Punkten bestimmt, in denen die Randlinien der Hauptstrasse
und der einmündenden Nebenstrasse zusammentreffen (BGE 80 IV 199, 85 IV
87). Wo die Einmündung, wie im vorliegenden Falle, durch Abrundung der
Randlinien trichterförmig ausgeweitet ist, stimmen diese Punkte mit der
Stelle überein, wo sich die Hauptstrasse auszuweiten beginnt. Diese unter
der Herrschaft des MFG geübte Rechtsprechung entspricht auch der heutigen
Ordnung. In BGE 98 IV 117 hat das Bundesgericht denn auch ausgeführt, bei
trichterförmigen Einmündungen von Nebenstrassen in vortrittsberechtigte
Hauptstrassen erstrecke sich das Einmündungsgebiet der vortrittsbelasteten
Nebenstrasse über die ganze Länge der durch die gestrichelte Linie
begrenzten Fläche. Der Wartepflichtige darf also bis zur gestrichelten
Linie vorfahren, ohne den Vortrittsberechtigten zu behindern.

    Daraus ergibt sich, dass den auf dem Hauptstrassenzug
Weissenstein-/Seftigenstrasse verkehrenden Fahrzeugen das Vortrittsrecht
auf der ganzen Fläche zusteht, auf der sich die zusammentreffenden
Strassen (nördlicher Teil der Seftigenstrasse und Hauptstrassenzug
Weissenstein-/Seftigenstrasse) überschneiden, und dass diese Fläche
nach den beiden Punkten bestimmt wird, an denen die Randlinien des
Hauptstrassenzuges sich gegen die nördliche Seftigenstrasse hin abzubiegen
beginnen. Demzufolge fällt die Grenze zwischen Haupt- und Nebenstrasse
mit der markierten Begrenzungslinie (No 410) zusammen. Dies entspricht
denn auch Art. 53 Abs. 5 SSV, wonach solche Linien (z.B. bei Einmündungen)
die Fahrbahn von andern Verkehrsflächen abgrenzen.

    Das absolute Vortrittsrecht der den Hauptstrassenzug
Weissenstein-/Seftigenstrasse benützenden Fahrzeuge (Art. 36 Abs. 2 Satz
2 SVG, Art. 45 Abs. 2 VRV) reicht somit bis zu dieser Begrenzungslinie
und nur bis zu ihr. Wenn die auf der Seftigenstrasse von Norden kommenden
Fahrzeuge bis zu dieser Linie vordringen, verletzen sie es nicht. Auch
gegenüber der Strassenbahn reicht es nur bis zur Begrenzungslinie. Die
Strassenbahn befindet sich insoweit nicht in anderer Rechtslage als die
anderen von Norden kommenden Fahrzeuge.

    Nördlich der Begrenzungslinie gilt dagegen die allgemeine Ordnung,
wonach die Strassenbahn vortrittsberechtigt ist (Art. 38 Abs. 1 SVG) und
im übrigen das von links kommende Fahrzeug dem sich von rechts nähernden
den Vortritt zu lassen hat (Art. 36 Abs. 2 Satz 1 SVG).

Erwägung 3

    3.- Kilcher verlor deshalb das ihm als Benützer der Hauptstrasse
zustehende absolute Vortrittsrecht im Augenblick, als er die markierte
Begrenzungslinie überfuhr, um in die nördliche Seftigenstrasse einzubiegen.
Der Beschwerdeführer hat folglich Art. 45 Abs. 2 VRV nicht übertreten.
Nördlich der erwähnten Linie war die Strassenbahn vortrittsberechtigt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die
Vorinstanz zurückgewiesen.