Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 87



100 IV 87

23. Urteil des Kassationshofes vom 9. Juli 1974 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Graubünden gegen X. Regeste

    Art. 39 Abs. 1 SVG. Zeichengebung.

    Werden zwei Strassenteile an einer Kreuzung oder Einmündung entgegen
ihrem natürlichen Verlauf durch entsprechende Signalisierung zu einem
vortrittsberechtigten Hauptstrassenzug zusammengefasst, so hat der diesem
folgende Strassenbenützer Zeichen zu geben, bevor er den natürlichen
Verlauf der Fahrbahn verlässt.

Sachverhalt

    A.- Am 20. Juni 1973 fuhr X. auf seinem Fahrrad in Chur auf der
Grabenstrasse in Richtung Untertor. Dort beschreibt diese eine ausgeprägte
Linksbiegung, in deren Bereich nach rechts die Reichsgasse und geradeaus,
gleichsam als Fortsetzung der Grabenstrasse die Steinbruchstrasse
abzweigt. Die Grabenstrasse ist vor der Biegung mit dem Signal Nr. 307
(Hauptstrasse) und der Zusatztafel Nr. 381 gekennzeichnet. In der Biegung
selbst ist sie rechts mit einer Begrenzungslinie (Nr. 410) versehen.

    X., der beabsichtigte, nach links der Hauptstrasse zu folgen,
unterliess auf der Höhe der geradeaus verlaufenden Steinbruchstrasse seine
Absicht anzuzeigen. Da der ihm folgende Automobilist glaubte, X. werde
seine Fahrt geradeaus fortsetzen, wollte er ihn überholen. Dabei stiess
er mit dem Radfahrer zusammen, als dieser der Begrenzungslinie entlang
nach links abschwenkte.

    B.- Das Kreisamt Chur büsste am 25. August 1973 beide Beteiligten mit
je Fr. 60.-. Auf Einsprache hin sprach der Kreisgerichtsausschuss X. von
der Anklage der Übertretung von Art. 39 Abs. 1 SVG frei.

    Eine gegen diesen Entscheid eingereichte Berufung der
Staatsanwaltschaft wies der Kantonsgerichtsausschuss Graubünden am
27. März 1974 ab. Er stellte sich auf den Standpunkt, X. habe keine
Richtungsänderung im Sinne von Art. 39 Abs. 1 SVG vorgenommen.

    C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses aufzuheben und die Sache zur
Schuldigsprechung und Bestrafung von X. an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    Nach Art. 39 Abs. 1 SVG ist jede Richtungsänderung mit dem
Richtungsanzeiger oder durch deutliches Handzeichen rechtzeitig
bekanntzugeben. Dies gilt namentlich für:

    a) das Einspuren, Wechseln, und Abbiegen,

    b) das Überholen und das Wenden,

    c) das Einfügen eines Fahrzeuges in den Verkehr und das Anhalten
am Strassenrand.

    Bei dieser Aufzählung handelt es sich, was unmissverständlich aus
dem Wortlaut folgt, nur um Beispiele. Sie ist also keine abschliessende
und lässt deshalb für andere Verhaltensweisen Raum. Aus den genannten
Beispielen ergibt sich jedoch, dass eine Richtungsänderung nicht notwendig
ein Verlassen der benutzten Strasse voraussetzt, vielmehr auch auf dieser
selber Richtungsänderungen möglich sind (z.B. Einspuren, Überholen
usw.). Allgemein wird deshalb die Richtungsänderung als ein Abweichen
vom natürlichen Verlauf einer Fahrbahn oder Fahrspur bezeichnet werden
können (BGE 96 IV 130 oben). Gabelt sich eine Strasse oder zweigt
von ihr in spitzem Winkel eine Strasse ab, so wird die Frage, ob der
Verkehrsteilnehmer seine Richtung ändert, danach beantwortet werden müssen,
ob der von ihm gewählte Verkehrsweg bei natürlicher Betrachtungsweise
als Fortsetzung der bisherigen Fahrrichtung anzusehen ist oder nicht.

    Im vorliegenden Fall erscheint nach der eigenen Feststellung
der Vorinstanz die Steinbruchstrasse als die gerade Fortsetzung
der Grabenstrasse. Diese liegt nach dem bei den Akten liegenden
Strassenplan tatsächlich in der gleichen Linie wie die der Linksbiegung
vorgelagerte Strecke der Grabenstrasse. Auch hat sie nach einer kurzen
linksseitigen Verengung annähernd die gleiche Breite wie die letztgenannte
Hauptstrasse. Dass sie zudem dem Verkehrsteilnehmer unmittelbar als die
natürliche Fortsetzung der Grabenstrasse erscheinen muss, erhellt auch
aus den photographischen Aufnahmen, welche in gerader Blickrichtung aus
der Grabenstrasse die Häuserflucht der Steinbruchstrasse zeigen. Das
Gesagte wird schliesslich durch den Umstand bestätigt, dass der dem
Beschwerdegegner folgende Führer mangels einer Zeichengebung durch den
ersteren aufgrund der gesamten Strassenanlage beim Untertor der Meinung
war, X. werde seine Fahrt geradeaus fortsetzen. Ist dem aber so, muss das
Befahren der Linksbiegung der Grabenstrasse an der besagten Stelle als
eine Richtungsänderung im Sinne des Art. 39 Abs. 1 SVG angesehen werden.

    Daran ändert nichts, dass die Grabenstrasse als Hauptstrasse
(Signal Nr. 307) mit der Zusatztafel Nr. 381 gekennzeichnet und der
auf ihr verkehrende Strassenbenützer vortrittsberechtigt ist. Die Frage
der Richtungsänderung ist von derjenigen der Vortrittsberechtigung
verschieden. Für die sogenannte abknickende Vorfahrt, wie sie hier
signalisiert war, ist gerade kennzeichnend, dass zwei Strassenteile
an einer Kreuzung oder Einmündung entgegen ihrem natürlichen Verlauf
durch entsprechende Signalisierung zu einem vortrittsberechtigten
Strassenzug zusammengefasst werden. Wer diesem Strassenzug folgt, weicht
somit von der natürlichen Bahn ab. Darauf weist auch der Wortlaut des
Art. 46 Abs. 1 SSV hin, der die Zusatztafel "Richtung der Hauptstrasse"
(Nr. 381) als ein Signal umschreibt, das bei den Signalen Nrn. 116 und
307 "den Verlauf einer die Richtung ändernden Hauptstrasse" anzeigt, und
Art. 64 Abs. 3 SSV verlangt das Beifügen der genannten Zusatztafeln dort,
wo "die Hauptstrasse nach rechts oder links schwenkt". Wer deshalb einer
solchen Hauptstrasse folgt und damit nach der gesamten äusseren Anlage der
Kreuzung oder Einmündung den natürlichen Verlauf der Fahrbahn verlässt,
hat zuvor Zeichen zu geben (ebenso der deutsche BGHZ, NJW 1966 I S. 108;
JAGUSCH, Strassenverkehrsrecht, 20. Auflage, N. 19 zu § 9 StVO 1;
anderer Meinung BUSSY, Schweiz. Jurist. Kartothek Ersatzkarte 708, I,
3 N. 4, immerhin mit dem Vorbehalt, dass keine Gefahr besteht).

    Diese Ordnung entspricht auch den praktischen Bedürfnissen
des täglichen Verkehrs. Die von Art. 39 Abs. 1 SVG geforderte
Zeichengebung dient der Orientierung der übrigen Verkehrsteilnehmer,
die zweifelsfrei sollen erkennen können, in welcher Richtung der andere
sich fortbewegen wird. Diese Orientierung würde jedoch in Fällen wie dem
vorliegenden erheblich erschwert, wenn die Frage der Richtungsänderung
nicht von dem erkennbaren natürlichen Verlauf der Fahrbahn, sondern
von der Signalisierung eines Vortrittsrechtes abhinge. Dafür ist
der Unfall, in welchen der Beschwerdegegner verwickelt wurde, ein
sprechendes Beispiel. Missverständnisse und eine Beeinträchtigung der
Verkehrssicherheit müssten sich aber auch dort einstellen, wo aus der
Nebenstrasse, welche die natürliche Fortsetzung der Hauptstrasse bildet,
Verkehrsteilnehmer in diese letztere einfahren wollen. Des weiteren Wäre
die Folge aus der vom Kantonsgerichtsausschuss vertretenen Meinung, dass
der Führer auf der Hauptstrasse, der diese verlassen will, um geradeaus
weiterzufahren, zur Stellung des rechten bzw. linken Blinkers verpflichtet
werden müsste, weil sein Verhalten dann als Richtungsänderung anzusehen
wäre. Das aber würde seinerseits dort, wo in der Biegung der Hauptstrasse
wie hier nach rechts noch eine Nebenstrasse (Reichsgasse) abzweigt, zu
Unsicherheit führen, indem namentlich Fussgänger, welche die geradeaus
verlaufende Nebenstrasse (Steinbruchstrasse) queren wollen, zur Annahme
verführt würden, der aus der Hauptstrasse kommende Führer werde noch vor
ihrem Übergang seitlich nach rechts abschwenken. Da jedoch der Verkehr
in hohem Masse an klaren und einfachen Regeln interessiert ist (BGE 95
IV 89 unten), müssen solche Schwierigkeiten vermieden werden. Das aber
kann nur dadurch geschehen, dass in Fällen wie dem vorliegenden auf den
natürlichen Verlauf der Strasse abgestellt und der auf einer die Richtung
ändernden Hauptstrasse verkehrende Strassenbenützer verpflichtet wird,
die Richtungsänderung anzuzeigen.

    Das hat hier der Beschwerdegegner unbestrittenermassen unterlassen. Die
Vorinstanz hat ihn somit zu Unrecht von einer Missachtung des Art. 39
Abs. 1 SVG freigesprochen. Ihr Urteil ist deshalb aufzuheben und die
Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an
die Vorinstanz zurückgewiesen.