Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 83



100 IV 83

22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 1. März 1974
i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen Bläuer. Regeste

    Art. 36 Abs. 3 SVG.

    Wo von mehreren Spuren einer Fahrbahn die eine mit einem beschränkten
Fahrverbot belegt ist, indem sie den öffentlichen Verkehrsmitteln (Bus)
vorbehalten wird, hat der sie zu queren beabsichtigende Linksabbieger den
entgegenkommenden Fahrzeugen den Vortritt zu lassen, selbst wenn diese
zur Benützung der reservierten Spur nicht berechtigt sind.

Sachverhalt

    A.- Am 13. April 1973, um 14.50 Uhr lenkte Bläuer einen
Taxi-Personenwagen in Bern auf dem Nordring stadtauswärts in Richtung
Wyleregg. Der Nordring ist eine vierspurige Strasse. Die dem stadteinwärts
fliessenden Verkehr vorbehal tenen zwei Fahrspuren sind in eine Normal-
und eine Busspur unterteilt. Die erste verläuft der Strassenmitte entlang
und ist von der zweiten durch eine weisse und eine parallele durchgezogene
gelbe Linie getrennt. Die Busspur ist überdies mit der Bezeichnung
"Bus" markiert. Bläuer beabsichtigte, auf der Höhe der Verzweigung
Nordring/Quartierstrasse nach links abzubiegen. Zu diesem Zwecke musste
er beide Spuren der Gegenfahrbahn überqueren. Als er sich der Verzweigung
näherte, stand auf der Normalspur der Gegenfahrbahn eine Fahrzeugkolonne,
die ihm die Sicht auf die Busspur verdeckte. Im Begriffe, diese zu
überqueren, stiess er mit einem von Frau Blum gesteuerten Personenwagen
zusammen, der die Busspur benutzt hatte. Bei dem Unfall wurde eine im
Taxi mitfahrende Person verletzt.

    B.- Am 5. September 1973 verurteilte der Gerichtspräsident VII von
Bern Bläuer wegen Missachtung des Vortrittsrechtes der Frau Blum in
Anwendung von Art. 36 Abs. 3 SVG zu einer Busse von Fr. 40.-.

    Auf Berufung des Gebüssten sprach das Obergericht des Kantons Bern
diesen von der Anschuldigung des Verstosses gegen Art. 36 Abs. 3 SVG frei,
weil Frau Blum nicht berechtigt gewesen sei, die Busspur zu benutzen.

    C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern führt Nichtigkeitsbeschwerde
und beantragt, Bläuer wegen Verletzung des Vortrittsrechtes gemäss Art. 36
Abs. 3 SVG schuldig zu sprechen und zu bestrafen.

    D.- Bläuer beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 36 Abs. 3 SVG ist vor dem Abbiegen nach links den
entgegenkommenden Fahrzeugen der Vortritt zu lassen. Geht man vom
Wortlaut dieser Bestimmung aus - und auf diesen ist als Grundlage
jeder Gesetzesauslegung zunächst abzustellen (BGE 95 IV 73) -, so
erweist sich das darin ausgesprochene Gebot insofern als ein absolutes,
als es grundsätzlich unbekümmert darum beachtet werden muss, ob der
entgegenkommende Führer zum Befahren der von ihm benutzten Fahrbahn
berechtigt ist oder nicht. Die Tatsache, dass er auf dieser fährt,
verpflichtet den Linksabbieger, zu warten. Dieser im Wortlaut liegenden
Aussage entspricht im wesentlichen auch der Sinn der Norm. Art. 36 Abs. 3
SVG ist ein Anwendungsfall der im Strassenverkehr gültigen Grundregel,
dass der Verkehr, der seine Richtung beibehält, vor demjenigen, der sie
ändert, den Vorrang hat (JAGUSCH, Strassenverkehrsrecht, 20. Auflage,
N. 39 zu § 9 StVO). Damit ist aber auch gesagt, dass im Interesse der
Sicherheit wie der Flüssigkeit des Verkehrs ein AbWeichen von der Norm nur
ausnahmsweise zulässig sein kann. Der Verkehr ist nämlich in hohem Masse
an einfachen und klaren Regeln interessiert, die bloss dort durchbrochen
werden sollen, wo besondere Umstände eine Ausnahme rechtfertigen
(BGE 94 IV 75 E. 1, 95 IV 89). Eine solche hat das Bundesgericht in
der Anwendung von Art. 36 Abs. 3 SVG bis anhin nur in BGE 91 IV 144 ff.
anerkannt, wo der entgegenkommende Führer eine mit dem Signal "Allgemeines
Fahrverbot" versehene Strasse befuhr. Eine Verkehrsfläche, auf der das
allgemeine Fahrverbot uneingeschränkt gilt, darf von Motorfahrzeugen und
motorlosen Fahrzeugen überhaupt nicht benützt werden. Sie stellt daher
keine Fahrbahn dar (Art. 1 Abs. 4 VRV), mit der Folge, dass sie an der
Stelle, wo sie mit einer dem Fahrverkehr geöffneten Strasse zusammentrifft,
keine Verzweigung bildet (Art. 1 Abs. 8 VRV). Hier hat der Führer, der die
öffentliche Strasse benützt, gegenüber dem andern, der auf einer Strasse
mit unbeschränktem Fahrverbot fährt, den absoluten Vortritt. Anders
ist es indessen, wenn das signalisierte Fahrverbot eingeschränkt, das
Befahren der mit dem Verbot belegten Strasse bestimmten Fahrzeugführern
oder Fahrzeugkategorien oder für bestimmte Zwecke gestattet ist. Die
Strasse bleibt hier Fahrbahn im Sinne des Art. 1 Abs. 4 VRV, und ihre
beschränkte Befahrbarkeit kann auf die Verkehrsregeln über den Vortritt
bloss Einfluss haben, wenn die betreffende Strasse dadurch für den
allgemeinen Verkehr eine derart untergeordnete Bedeutung erhält, dass
sie im Vergleich zur andern einer blossen Ausfahrt im Sinne des Art. 1
Abs. 8 VRV gleichzustellen wäre. Diese von der Rechtsprechung für die
Fahrbahn schlechthin aufgestellten Grundsätze müssen auch für die einzelne
Fahrspur einer Strasse Geltung haben. Wo von zwei oder mehreren Spuren
einer Fahrbahn die eine mit einem beschränkten Fahrverbot belegt ist,
indem sie beispielsweise bestimmten Fahrzeugkategorien vorbehalten wird,
bleibt sie Teil der Fahrbahn im Sinne des Art. 1 Abs. 4 VRV, und es hat
der Linksabbieger, der sie queren will, den entgegenkommenden Fahrzeugen
den Vortritt zu lassen.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass die dem stadteinwärts
fahrenden Verkehr auf dem Nordring vorbehaltene Fahrbahnhälfte in zwei
Spuren aufgeteilt war, nämlich in die sogenannte Normalspur, auf welcher
alle Fahrzeuge verkehren durften, und in die Busspur, die von der anderen
durch zwei durchgezogene Linien (eine äussere weisse und eine innere gelbe)
getrennt und mit der Aufschrift "BUS" markiert war. Des weiteren steht
nach dem angefochtenen Urteil fest, dass diese Busspur zur Unfallzeit
nur den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Verfügung stand, zu denen nach
der in Bern herrschenden Verkehrsauffassung ausser den Fahrzeugen der
öffentlichen Verkehrsbetriebe auch die Taxis zählen.

    Geht man von diesen Feststellungen und der für Bläuer
günstigsten Voraussetzung aus, dass die Markierung der fraglichen Spur
vorschriftsgemäss und daher gültig war, so erweist sich diese Spur als
eine Verkehrsfläche, die nur mit einem beschränkten Fahrverbot belegt
war. Da sie zudem von allen öffentlichen Verkehrsmitteln, einschliesslich
der Taxis, befahren werden durfte, kann sie nicht einer blossen Ausfahrt
gleichgestellt werden, selbst wenn die Verkehrsdichte auf ihr gering
war. Demnach hätte Bläuer, der als Linksabbieger diese Spur queren wollte,
allen auf ihr entgegenkommenden Fahrzeugen und namentlich auch Frau Blum
den Vortritt lassen müssen. Diese strikte Anwendung von Art. 36 Abs. 3
SVG (s. BUSSY/RUSCONI CS/CR annoté N. 2.2 zu Art. 36 SVG; SCHULTZ,
Die strafrechtliche Rechtsprechung zum neuen Strassenverkehrsrecht,
S. 173) rechtfertigt sich auch in Anbetracht der Verhältnisse des
vorliegenden Falles. Dass nämlich auf der Busspur verkehrende Fahrzeuge
in der Grösse von Personenwagen, zu denen auch die Taxis zählen, vom
Linksabbieger nicht immer rechtzeitig erkannt werden können, hat sich
gerade hier erwiesen. Aber auch die Markierungen auf der genannten Spur
sind nicht durchwegs leicht erkennbar. Die ausgezogene Randlmie hört vor
der Verzweigung auf und läuft erst nach dieser weiter. Zudem kann die
Sicht auf die Oberfläche der Gegenfahrbahn mit der etwas zurückliegenden
Aufschrift "BUS" durch auf der Normalspur stehende Fahrzeuge verdeckt
sein. Wollte man es unter solchen Umständen der Prüfung des einzelnen
Linksabbiegers anheimstellen, ob ein auf der Busspur allenfalls
verkehrender Fahrzeugführer zu deren Benutzung berechtigt sei, würde damit
ein gefährliches Unsicherheitsmoment in den Verkehr hineingetragen, das
mit dem Erlass des Art. 36 Abs. 3 SVG gerade ausgeschaltet werden wollte.

    Hat demnach Bläuer gegen Art. 36 Abs. 3 SVG verstossen, so ist damit
zwar nicht gesagt, dass Frau Blum nicht ihrerseits eine Schuld am Unfall
treffe. Eine solche könnte jedoch Bläuer hier nicht entlasten. Denn
abgesehen davon, dass es im Strafrecht keine Schuldkompensation gibt (BGE
85 IV 91, Nr. 23), ist eine Missachtung von Art. 36 Abs. 3 SVG strafbar
unbekümmert darum, ob eine konkrete Gefahr geschaffen wurde und ob das
fehlerhafte Verhalten Bläuers für den Zusammenstoss kausal geWesen ist
(BGE 96 IV 136 E. 1).