Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 76



100 IV 76

21. Urteil des Kassationshofes vom 26. März 1974 i.S. Roth gegen
Generalprokurator des Kantons Bern Regeste

    Art. 35 Abs. 3 SVG:

    1.  Ist der Überholte genötigt, wegen des zu engen Wiedereinbiegens
des Überholenden seine Geschwindigkeit herabzusetzen, so wird er dadurch
in seiner Fahrt behindert; der Überholende lässt an der gesetzlich
vorgeschriebenen besonderen Rücksichtnahme gegenüber dem Überholten
ermangeln (Erw. 2).

    2.  Fall eines Überholenden, der beim Ausschwenken und
Wiedereinschwenken vom mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h fahrenden
Überholten nur 25 m Abstand wahrt (Erw. 2).

    Art. 35 Abs. 2 SVG:

    Ob der Gegenverkehr behindert wird, erklärt sich nicht nach dem
subjektiven Empfinden des Lenkers des entgegenkommenden Wagens, sondern
danach, ob der Überholende zu Beginn des Manövers nach der objektiven
Verkehrslage annehmen durfte, er werde den Gegenverkehr nicht behindern
(Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Roth fuhr Sonntag nachmittags, den 17. Juni 1973 mit seinem
Personenwagen auf der geraden Solothurnstrasse von Pieterlen gegen
Biel. In der Gegend des Ausstellplatzes beim Schutzwald unterhalb des
Schiessplatzes Bözingenmoos überholte er mit 100 km/h einen mit 80
km/h fahrenden Personenwagen, wobei sich ihm ein von Biel herkommender
Personenwagen näherte, der ebenfalls 80 km/h inne hatte. Die Strasse ist
dort durch eine Leitlinie in zwei Fahrbahnen von je 3,6 m Breite geteilt,
an die je ein Radfahrerstreifen von 1,4 oder 1,5 m angrenzt. Roth fuhr
beim Überholen vollständig auf die linke Fahrbahn. Vor dem überholten
Fahrzeug schwenkte er wieder auf die rechte Fahrbahn ein noch ehe
er den entgegenkommenden Wagen kreuzte. Polizeikorporal Leu, der beim
Ausstellplatz den Verkehr kontrollierte und an dem Roth und das überholte
Fahrzeug ungefähr gleichzeitig vorbeifuhren, hatte jedoch den Eindruck,
Roth habe die beiden anderen Wagen gefährdet; der entgegenkommende habe
ihn gezwungen, den Überholweg zu kurz zu gestalten. Er zeigte Roth daher
wegen Übertretung der Art. 34 Abs. 4 und 35 Abs. 2 SVG an.

    B.- Mit Urteil vom 15. Oktober 1973 erklärte der Gerichtspräsident
von Büren Roth der Widerhandlung gegen diese beiden Bestimmungen schuldig
und verurteilte ihn in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG zu Fr. 90.-
Busse. Die hiegegen erhobene Appellation wies die II. Strafkammer des
Obergerichtes des Kantons Bern in Bestätigung des erstinstanzlichen
Urteils am 11. Januar 1974 ab.

    Das Obergericht kam zum Schluss, bei Geschwindigkeiten von 100 km/h
bzw. 80 km/h der beteiligten Fahrzeuge erfordere korrektes Überholen vom
Ausbiegen bis zum Wiedereinbiegen eine Strecke von mindestens 450 m. Es sei
technisch allerdings gerade noch möglich, bei diesen Geschwindigkeiten auf
300 m zu überholen. Als Roth ausbog, müsse er somit von Leu noch etwa 150
m entfernt gewesen sein. Leu müsse diese Entfernung unterschätzt haben,
als er sie mit 100 m angab.

    Diese Unterschätzung liege aber im Bereich des Möglichen. Deshalb sei
davon auszugehen, dass Roth das Überholen auf einer Strecke von ca. 300 m
ausgeführt habe. Eine solche Verkürzung des Überholweges sei aber nur bei
knappem Aus- und Einbiegen möglich. Das knappe Wiedereinbiegen müsse zu
Lasten des überholten Fahrzeuges gegangen sein und habe eine Behinderung
desselben dargestellt.

    Weiter stehe fest, dass das entgegenkommende Fahrzeug Lichtzeichen
gegeben habe, der Fahrer sich also gefährdet fühlte. Bewiesen sei auch,
dass nie drei Fahrzeuge gleichzeitig nebeneinander fuhren. Aus den
Zeugenaussagen könne nicht geschlossen werden, das überholte Fahrzeug habe
sich an den äussersten rechten Rand der Fahrbahn gehalten. Vielmehr sei
davon auszugehen, dass es eher im Bereich der Mitte seiner Fahrbahnhälfte
gefahren sei. Das entgegenkommende Fahrzeug sei auch nicht zuäusserst
rechts gefahren, sonst hätte sein Führer sich nicht veranlasst gesehen,
Lichtzeichen zu geben. Da Roth seinerseits mit der ganzen Wagenbreite
links der Mittellinie gefahren sei, hätte die zur Verfügung stehende
Motorfahrzeugspur von 3,6 m Breite zum Kreuzen nicht ausgereicht. Wenn
es ihm auch gelungen sei, noch vor dem Kreuzen des entgegenkommenden
Fahrzeuges wieder einzubiegen oder doch mit dem Einbiegen zu beginnen,
so habe er mit diesem riskanten Manöver doch eine Gefährdung des
entgegenkommenden Fahrzeuges in Kauf genommen.

    C.- Roth führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene
Urteil aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Feststellung des Obergerichtes, der Beschwerdeführer habe vom
Ausbiegen bis zum Wiedereinbiegen nach rechts etwa 300 m zurückgelegt,
ist tatsächlicher Natur und bindet daher das Bundesgericht (Art. 277bis
BStP). Auf die Behauptung des Beschwerdeführers, die Überholstrecke müsse
450 m betragen haben, kann nicht eingetreten werden (Art. 273 Abs. 1
lit. b BStP). Sie wird nicht dadurch zulässig, dass er die Auffassung
des Obergerichtes als willkürliche Annahme hinstellt, die sich auf die
Aussage des Polizeikorporals stütze, der ja auch nach der Meinung des
Obergerichtes unrichtig geschätzt habe.

Erwägung 2

    2.- Ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer vom Ausbiegen bis
zum Wiedereinbiegen nach rechts rund 300 m zurücklegte, so erweist sich
die Distanz des Überholenden vom Überholten beim Wiedereinschwenken als
zu kurz. Um mit 100 km/h die Überholstrecke von 300 m zurückzulegen,
benötigte der Beschwerdeführer 10,78 Sekunden (10,78 x 27,8 = 299,68
m). Während der gleichen Zeit legte der überholte Wagen mit 80 km/h
239,31 m zurück (10,78 x 22,2 = 239,31), also 60,37 m weniger als der
Beschwerdeführer.

    Die Längen der beiden Fahrzeuge sind nicht festgestellt. Der
Wagen des Beschwerdeführers war ein "Alfa Romeo" und der unbekannt
gebliebene überholte Wagen soll nach Angaben des Polizeikorporals ein
solcher der Mittelklasse oder ein Kleinwagen gewesen sein. Es darf
deshalb davon ausgegangen werden, dass die beiden Wagenlängen zusammen
9 m nicht überstiegen. Zieht man diese 9 m von den 60,37 m ab, die
der Beschwerdeführer während des Überholens mehr zurücklegte als der
überholte Wagen, so verbleiben 51,37 m. Verteilt man diese Strecke auf
die Abstände, die der Beschwerdeführer vor dem Ausbiegen nach links und
nach dem Wiedereinbiegen nach rechts vom anderen Wagen einhalten musste,
so ergeben sich Abstände von je rund 25,5 m. Dass der Abstand vor und
nach dem Überholen ungefähr gleich gross gewesen sein muss, ergibt
sich daraus, dass nach der Feststellung des Obergerichtes der Wagen des
Beschwerdeführers beim Ausbiegen etwa 150 m vom Polizeikorporal entfernt
war, ungefähr gleichzeitig wie der überholte Wagen an Leu vorbeifuhr und
zur Beendigung des Überholens nochmals etwa 150 m zur Verfügung hatte.

    Der ermittelte Abstand von rund 25 m zwischen dem Überholenden und dem
Überholten war allerdings erst in der Schlussphase des Überholmanövers
erreicht, d.h. im Moment, da das überholende Fahrzeug seine Stelle
am rechten Strassenrand wieder eingenommen hatte. Zuvor - während des
Wiedereinbiegens - bestand diese Distanz nicht. Sie vergrösserte sich erst
im Verlaufe des Einbiegens wegen der höheren Geschwindigkeit von dem Punkt,
in welchem die Fahrzeuge auf gleicher Höhe sich befanden, bis zu jenen 25
m bei Abschluss des Manövers. Da aber das überholende Fahrzeug zwischen
diesen beiden Punkten einer vor dem überholten Wagen durchgehenden Schräge
folgte, kam das erstere in bedrohliche Nähe des zweiten.

    Nach Art. 35 Abs. 3 SVG muss derjenige, der überholt, auf die
übrigen Strassenbenützer, namentlich auf jene, die er überholen will,
besondere Rücksicht nehmen. Das Überholen einzelner oder mehrerer
Fahrzeuge ist nur erlaubt, wenn der Überholende sein Vorhaben
gefahrlos abschliessen, d.h. ohne Behinderung des Gegenverkehrs und
des zu Überholenden nach dem Manöver rechts wieder einschwenken kann
(BGE 93 IV 64 mit Verweisungen). Kann der Überholte seine Fahrt nicht
ungestört fortsetzen, ist er vielmehr genötigt, wegen des zu engen
Wiedereinbiegens des Überholenden seine Geschwindigkeit herabzusetzen,
wird er dadurch behindert. Der Überholende lässt es in einem solchen
Fall an der Rücksichtnahme ermangeln, zu der er nach Art. 35 Abs. 3 SVG
verpflichtet ist (BGE 93 IV 65 unten).

    Wenn Roth in der Schlussphase seines Überholmanövers lediglich 25
m Abstand vom Überholten hatte, muss er diesen beim Wiedereinschwenken
nach rechts gefährdet haben. Bei den gegebenen Geschwindigkeiten hätte
er für ein gefahrloses Überholen eine erheblich längere Strecke benötigt,
als die 300 m, die ihm zur Verfügung standen. Nach dem vom Kassationshof
immer wieder verwendeten Paravit-Kreisschieber hätte der Überholweg
hier 550 m betragen. Auch nach der in der Literatur verwendeten
Berechnungsformel würde die fragliche Strecke etwa gleich lang sein
(BUSSY/RUSCONI, Code suisse de la circulation routière, N. 2.9 zu Art. 35
SVG auf S. 135). Danach muss derjenige, der einen anderen Wagen mit mehr
als 70 km/h überholt, von diesem beim Aus- und beim Wiedereinschwenken
einen Abstand von 50 m wahren. Die Summe dieser Strecken plus die Längen
der beiden Wagen multipliziert mit der Geschwindigkeit des Überholenden
und das Ganze geteilt auf die Differenz zwischen der Geschwindigkeit des
Überholenden und derjenigen des Überholten ergibt im vorliegenden Fall
545 m (50 + 50 + 4,5 + 4,5) x 100: 20 = 545 m. Selbst wenn man diese
Richtwerte etwas herabsetzen würde, falls es sich beim Überholenden um
einen erfahrenen Motorfahrzeugführer handelt (BUSSY/RUSCONI, aaO S. 136
oben), ergäbe das niemals eine so kurze Überholdistanz, wie sie Roth zur
Verfügung stand. Der Beschwerdeführer ist somit seinen Rücksichtspflichten
gemäss Art. 35 Abs. 3 SVG nicht nachgekommen, weshalb die Vorinstanz ihn
zu Recht wegen Verletzung dieser Gesetzesbestimmung verurteilt hat.

Erwägung 3

    3.- Eine andere Frage ist, ob der Beschwerdeführer das entgegenkommende
Fahrzeug behindert habe.

    Sie lässt sich nicht schon deshalb bejahen, weil der Lenker dieses
Wagens den Beschwerdeführer durch ein Lichtzeichen warnte. Aus dem
Zeichen ist an sich nur zu schliessen, dass er den Beschwerdeführer auf
den entgegenkommenden Wagen aufmerksam machen wollte. Dass dieser Wagen
die Geschwindigkeit herabsetzte, ist nicht festgestellt und behauptet
auch der Polizeikorporal nicht.

    Fuhr er aber mit unveränderter Geschwindigkeit (von 80 km/h)
weiter, so kann sich sein Führer vernünftigerweise trotz des abgegebenen
Lichtzeichens nicht als gefährdet betrachtet haben, zumal er nicht einmal
auf den Radfahrerstreifen auswich.

    Übrigens kommt auf das subjektive Empfinden des Führers des
entgegenkommenden Fahrzeuges nichts an. Entscheidend ist nur, ob der
Beschwerdeführer nach der objektiven Verkehrslage beim Beginn des
Überholens annehmen musste, er werde das entgegenkommende Fahrzeug im
Sinne des Art. 35 Abs. 2 SVG behindern, und er deshalb vom Überholen
hätte absehen sollen.

    Der festgestellte Sachverhalt reicht zur Beantwortung dieser Frage
nicht aus. Das Obergericht weiss nicht, wo sich das entgegenkommende
Fahrzeug unmittelbar nach der Beendigung des Überholens befand. Es
drückt sich reichlich unbestimmt dahin aus, es sei dem Beschwerdeführer
gelungen, "noch vor dem Kreuzen des entgegenkommenden Fahrzeuges wieder
einzubiegen oder doch mit dem Einbiegen zu beginnen". Es nimmt auch
nicht zur Behauptung des Polizeikorporals Stellung, der entgegenkommende
Wagen sei nur noch etwa 60-80 m von ihm, Leu, entfernt gewesen, als Roth
an ihm, Leu, vorbeifuhr. Diese Behauptung ist übrigens offensichtlich
unvereinbar mit der feststehenden Tatsache, dass der Beschwerdeführer vom
Polizeikorporal aus bis zur Stelle, wo er das Überholen beendete, noch etwa
150 m zurückzulegen hatte. Die von Leu angegebenen 60-80 m liegen innerhalb
dieser Strecke. Wäre die Behauptung Leus richtig, so hätte es unfehlbar
zu einem frontalen Zusammstoss kommen müssen. Wenn der Beschwerdeführer,
wie festgestellt ist, ungefähr 150 m vom Polizeikorporal entfernt das
Überholen unbehelligt beenden konnte, muss der entgegenkommende Wagen
noch wesentlich mehr als 150 m vom Polizeikorporal entfernt gewesen
sein, als der Beschwerdeführer an diesem vorbeifuhr; denn während der
Beschwerdeführer die 150 m zurücklegte - wofür er 5,39 Sekunden benötigte -
näherte sich der mit 80 km/h entgegenkommende Wagen dem Polizeikorporal
um 5,39 x 22,2 = 119,65 m. Wenn der entgegenkommende Wagen das Fahrzeug
des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Beendigung des Überholens kreuzte,
muss er somit, als der Beschwerdeführer am Polizeikorporal vorbeifuhr,
noch etwa 119,65 + 150 = 269,65 m von diesem entfernt gewesen sein.

    Falls das Obergericht nicht in der Lage ist, zuverlässig festzustellen,
wo der Beschwerdeführer den entgegenkommenden Wagen kreuzte, wird es
den Beschwerdeführer vom Vorwurf, diesen Wagen behindert zu haben,
freisprechen müssen. Der blosse Vorwurf, der Beschwerdeführer habe zu
wenig berücksichtigt, dass dieser Wagen seine Fahrweise ändern oder der
Beschwerdeführer sich verschätzen könnte, reicht zur Verurteilung wegen
Übertretung der Art. 34 Abs. 4 und 35 Abs. 2 SVG nicht aus.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen, das
angefochtene Urteil entsprechend aufgehoben und die Sache zur
Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.