Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 54



100 IV 54

15. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. April 1974
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen Y. Regeste

    Art. 237 StGB, Störung des öffentlichen Verkehrs.

    Personen, die sich jemandem für eine Fahrt anvertrauen, sind
ihrem Führer gegenüber durch diese Bestimmung ebenfalls geschützt
(Praxisänderung).

Sachverhalt

                     Sachverhalt (gekürzt):

    A.- Am 25. November 1970 wurde ein Doppelrumpf-Lastschiff von der
Eigentümerin zur Erlangung der Betriebsbewilligung den Behörden auf
dem Zürichsee vorgeführt. Das Schiff war zu stark beladen. Bei einem
Wendemanöver kenterte es. Dabei ertrank ein Schiffsgehilfe.

    B.- Das Obergericht des Kantons Zürich sprach den Betriebsleiter der
Schiffseignerin von der Anklage der fahrlässigen Tötung und der Störung
des öffentlichen Verkehrs frei.

    Die Staatsanwaltschaft beantragt mit Nichtigkeitsbeschwerde
Schuldigsprechung in beiden Anklagepunkten.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    5.- In BGE 76 IV 122 und 125 wurde entschieden, Art. 237 StGB
sei nicht jedesmal anwendbar, wenn jemand Leib und Leben einer am
öffentlichen Verkehr teilnehmenden Person gefährde, sondern nur dann,
wenn darüber hinaus der öffentliche Verkehr gehindert, gestört oder
gefährdet werde. Art. 237 wolle nicht "in erster Linie" Leib und Leben,
sondern den öffentlichen Verkehr schützen. Öffentlich aber sei vom Täter
aus gesehen nur der Verkehr der Allgemeinheit, nicht der Verkehr, den der
Täter selber schaffe, indem er sich auf der Strasse, auf dem Wasser oder
in der Luft fortbewege oder aufhalte. Wer den eigenen Gang, die eigene
Fahrt oder den eigenen Flug hindere, störe oder gefährde, vergehe sich
nicht gegen Art. 237 StGB. Personen, die sich jemandem für eine Fahrt
oder einen Flug anvertrauten, seien deshalb ihrem Führer gegenüber durch
diese Bestimmung nicht geschützt; sie seien im Verhältnis zu ihm nicht
"Allgemeinheit". Ein Jahr zuvor hatte der Kassationshof den Standpunkt
vertreten, Art. 237 StGB schütze Leib und Leben von Menschen, und hatte
damit im öffentlichen Verkehr nur das Tatmittel gesehen (BGE 75 IV 124).

    Nach erneuter Prüfung der Frage ist mit SCHWANDER (Das Schweiz. StGB,
Nr. 678 S. 444) festzustellen, dass zur Sicherung der eigentlichen
Verkehrsabläufe die Übertretungstatbestände der Nebenstrafgesetzgebung
genügen und die schweren Strafen des Art. 237 StGB Leib und Leben
von Menschen, die sich im öffentlichen Verkehr befinden, schützen;
deswegen ist Art. 237 StGB auch anwendbar, wenn der Täter Leib und Leben
mitfahrender Personen gefährdet; es ist in der Tat nicht einzusehen,
warum diese weniger schutzwürdig wären als andere Verkehrsteilnehmer. Zwar
findet sich Art. 237 StGB unter dem Titel "Verbrechen und Vergehen gegen
den öffentlichen Verkehr". Aber abgesehen davon, dass Titel neben dem
Sinn der einzelnen Bestimmung keine ausschlaggebende Bedeutung haben
(BGE 78 IV 176), gilt die genannte Überschrift auch für Art. 238 StGB,
der für den Eisenbahnverkehr insoweit eine dem Art. 237 StGB durchaus
analoge Regelung enthält, als es um die Gefährdung von Leib und Leben
von Menschen geht. Wie Art. 237 spricht auch Art. 238 StGB allgemein
von der durch die Störung des technischen Eisenbahnbetriebes bewirkten
Gefährdung von Leib und Leben von Menschen, ohne deren Kreis irgendwie
zu begrenzen (BGE 84 IV 20 unten). Für Art. 238 wurde jedoch stets
anerkannt, dass auch die transportierten Personen geschützt sind (BGE
78 IV 104, 80 IV 182, 86 IV 102). Warum es beim Verkehr auf der Strasse,
auf dem Wasser und in der Luft anders sein sollte, ist nicht ersichtlich.
Auch Mitfahrer nehmen am Verkehr teil, und es wäre wirklichkeitsfremd,
den Führer eines Passagierschiffes oder den Piloten eines Linienflugzeugs
im Personenverkehr, der in grobfahrlässiger Weise seine Führerpflicht
verletzt und dadurch Leib und Leben seiner Passagiere schwer gefährdet,
einzig deswegen nicht wegen Gefährdung des öffentlichen Verkehrs zu
bestrafen, weil er sich dabei fern eines andern Wasser- und Luftfahrzeuges
gehalten hat.