Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 244



100 IV 244

62. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. November 1974
i.S. Gerigk gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    1.  Verweisungsbruch, Art. 291 StGB. Art. 23 ANAG ist zu dieser
Bestimmung subsidiär (Erw. 1).

    2.  Trennung von Ehegatten infolge fremdenpolizeilicher Ausweisung,
Art. 11 Abs. 2 ANAG. Das Bundesgericht kann nicht prüfen, ob diese
Bestimmung vor dem das Recht zur Ehe gewährleistenden Art. 54 BV standhält
(Art. 113 Abs. 3 BV) (Erw. 2).

    3.  Rechtsirrtum, Art. 20 StGB.

    a)  Verkennen einer Rechtsnorm entschuldigt nicht, wenn sie genügend
klar ist, so dass auch ein Rechtsunkundiger das darin enthaltene Gebot
oder Verbot erkennen kann.

    b)  Im Zweifel über die Tragweite einer (Ausweisungs-) Verfügung ist
es dem von dieser Beschwerten zuzumuten, sich bei der verfügenden Behörde
danach zu erkundigen (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 5. Juni 1970 wurde der in Zofingen wohnhafte ostdeutsche
Staatsangehörige Hans-Günther Gerigk, der seit 1968 trotz wiederholter
behördlicher Warnungen keiner geregelten Arbeit nachging und 1969 wegen
Beschimpfung von Beamten verurteilt worden war, von der Fremdenpolizei des
Kantons Aargau gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. b und d ANAG ausgewiesen. Der
Regierungsrat des Kantons Aargau bestätigte am 14. Januar 1971 diesen
Entscheid grundsätzlich, schob jedoch den Vollzug der Ausweisung unter
Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren bedingt auf. Am 22. September
1972 wurde der bedingte Vollzug widerrufen und Gerigk Frist zur Ausreise
bis 31. Oktober 1972 angesetzt. Dieser nahm daraufhin Wohnsitz in
Westdeutschland.

    In der Folge reiste er wiederholt in die Schweiz. So traf er zweimal
in Basel seine Frau und kam öfters zum Telefonieren her. Einmal fuhr er
nach Luzern. Vom 22. bis 25. Dezember 1972 hielt er sich bei seiner Frau
in Zofingen auf und am 5. Januar 1973 reiste er wiederum nach Zofingen,
wo er bis 7. Januar bei seiner Frau bleiben wollte. Am 6. Januar 1973
erschien die Polizei in der Wohnung der Frau Gerigk und forderte ihn
auf, mit zum Polizeiposten zu kommen. Als er sich weigerte, wurde er
festgenommen und verhaftet.

    B.- Am 11. Januar 1973 verurteilte das Bezirksgericht Zofingen Gerigk
wegen wiederholten rechtswidrigen Betretens des Landes (Art. 11 Abs. 4
und 23 Abs. 1 ANAG) und Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB)
zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von 10 Tagen. Es wurden
ihm fünf Tage Untersuchungshaft angerechnet.

    Am 13. Dezember 1973 sprach das Obergericht des Kantons Aargau Gerigk
des Verweisungsbruchs (Art. 291 StGB) und der Hinderung einer Amtshandlung
schuldig und bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid im Strafpunkt.

    C.- Gerigk führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen
zu Freisprechung und Zuerkennung einer Haftentschädigung. Auch ersucht
er um unentgeltliche Rechtspflege.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer beantragt, sein Verhalten statt nach Art. 291
StGB aufgrund des ANAG als lex specialis zu beurteilen.

    Art. 23 ANAG ist im Verhältnis zu Art. 291 StGB nicht eine Sondernorm.
Abgesehen davon, dass das ANAG das ältere Gesetz ist, ist Art. 291 StGB
enger als Art. 23 ANAG. Er regelt den Fall, dass eine von einer zuständigen
Behörde auferlegte Landes- oder Kantonsverweisung gebrochen wird, während
Art. 23 Abs. 1 ANAG allgemein unter Strafe stellt, wer rechtswidrig das
Land betritt oder darin verweilt. Daraus folgt der subsidiäre Charakter der
zweiten Bestimmung, deren Anwendung sich vor allem auf Fälle beschränkt,
wo ein Ausländer ohne Bewilligung über die gesetzliche Aufenthaltsdauer
hinaus in der Schweiz bleibt (Art. 1 ff. ANAG), trotz Einreisesperre die
Schweiz betritt (Art. 13 ANAG) und dergleichen.

    Der Beschwerdeführer hat eine unbestrittenermassen von der zuständigen
Behörde erlassene Ausweisung gemäss Art. 10 ANAG missachtet. Damit hat
er sich gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt gewandt (BGE 71 IV 220;
Titel zu Art. 285 ff. StGB), weshalb die Vorinstanz ihn zu Recht nach
Art. 291 StGB beurteilt hat.

Erwägung 2

    2.- Gerigk macht geltend, die "Wegweisung" des ausländischen Ehegatten
verstosse gegen Art. 54 BV, der das Recht zur Ehe gewährleiste. Diese
Rüge läuft darauf hinaus, Art. 11 Abs. 2 ANAG als verfassungswidrig
hinzustellen. Nach dieser Bestimmung ist zwar in die Ausweisung in der
Regel auch der Ehegatte des Ausgewiesenen einzubeziehen. Indessen sieht das
Gesetz vor, dass eine Ausnahme insbesondere gemacht werden kann, wenn die
Ehefrau von Abstammung Schweizerbürgerin ist. Damit hat der Gesetzgeber
bewusst eine Trennung der Ehegatten als Folge einer fremdenpolizeilichen
Ausweisung anerkannt. Diese Ordnung kann das Bundesgericht nicht auf ihre
Verfassungsmässigkeit prüfen (Art. 113 Abs. 3 BV).

Erwägung 3

    3.- Weiter beruft sich der Beschwerdeführer auf Art. 19 StGB. Die
Fremdenpolizei habe keine Einreisesperre nach Art. 13 Abs. 1 ANAG
erlassen noch die "Wegweisung" auf das Gebiet der Schweiz ausgedehnt. Die
Verteidigerin des Beschwerdeführers weist sodann darauf hin, dass sie
aufgrund ihrer Erfahrungen in andern Fällen vermutlich im November oder
Dezember 1972 eine Anfrage von Frau Gerigk, ob ihr Mann sie besuchen könne,
dahin beantwortet habe, dass sich die Ausweisung auf die Wohnsitznahme und
die Berufsausübung beziehe und ein kurzer Besuch in der Schweiz möglich
sei. Gerigk habe sich daher mit guten Gründen für berechtigt gehalten,
die Landesgrenze zur Aufrechterhaltung des persönlichen Kontaktes mit
seiner Frau in Zofingen und zu kurzen Besorgungen in anderen Kantonen
zu überschreiten.

    Das Obergericht stellt für den Kassationshof verbindlich fest, dass der
Beschwerdeführer vorsätzlich handelte (Art. 277 bis Abs. 1 BStP; BGE 96 IV
101 unten, 98 IV 66). Damit hat es einen Irrtum über den Sachverhalt gemäss
Art. 19 StGB ausgeschlossen. Indessen will der Beschwerdeführer sinngemäss
in Wirklichkeit einen Rechtsirrtum gemäss Art. 20 StGB geltend machen.

    Er bestreitet nicht, dass er die Ausweisungsverfügung gekannt hat. Sie
enthielt nichts darüber, ob er aus der Schweiz oder nur aus dem Kanton
Aargau ausgewiesen worden sei noch ob sie bloss die Wohnsitznahme und die
Berufsausübung betreffe. Das war jedoch nicht nötig. Eine Ausweisung
im Sinne des von der Fremdenpolizei angewendeten Art. 10 ANAG ist
nach dessen Abs. 3 nur ausnahmsweise auf das Gebiet eines Kantons zu
beschränken und einzig dann, wenn der Ausländer in einem andern Kanton
eine Anwesenheitsbewilligung besitzt oder erhält. Daraus folgt, dass in
der Regel die Ausweisung für das ganze Gebiet der Schweiz gilt und eine
Beschränkung auf einen Kanton eines ausdrücklichen Vorbehalts bedarf
(s. Art. 16 Abs. 5 ANAV). Dem entspricht Art. 11 Abs. 1 ANAG, wonach
Ausgewiesene das Gebiet der Schweiz nicht betreten dürfen. Dieses
Verbot genügte im vorliegenden Fall, ohne dass es einer zusätzlichen
Einreisesperre oder einer Ausdehnung auf das Gebiet der Schweiz
bedurfte; wie die Wegweisung ist auch die Einreisesperre eine "andere
Entfernungsmassnahme"; beide sind mit der Ausweisung gemäss Art. 10
ANAG nicht identisch und betreffen andere Tatbestände (s. Art. 16 und
17 ANAV). War aber der Beschwerdeführer ohne Vorbehalt ausgewiesen
worden, dann durfte er die Schweiz nicht betreten, weder für Besorgungen
noch für Besuche bei seiner Frau. Diese Rechtslage ist klar, und dass der
Beschwerdeführer sie angeblich nicht gekannt bzw. verkannt hat, vermag ihn
nicht zu entlasten (BGE 91 IV 152, 93 IV 124, 97 IV 66). War er über die
Tragweite der Verfügung im Zweifel, dann war es ihm zuzumuten, sich bei der
verfügenden Behörde danach zu erkundigen (BGE 82 IV 17). Das Vorbringen der
Verteidigerin, sie habe der Frau des Beschwerdeführers erklärt, er dürfe
sie in Zofingen besuchen, weil die Ausweisung sich nur auf Wohnsitznahme
und Berufsausübung beziehe, ist schon deswegen unbehelflich, weil Gerigk
in der Beschwerde zugibt, dass diese Auskunft für sein Verhalten nicht
kausal war. Im übrigen könnte sie ohnehin die angebliche Annahme des
Beschwerdeführers nicht rechtfertigen, er dürfe sich ausser zu Besuchen
auch zu kurzen Besorgungen in die Schweiz begeben. Hatte demnach der
Beschwerdeführer keine zureichenden Gründe zur Annahme, er dürfe trotz
der Ausweisung zu kurzen Aufenthalten in die Schweiz einreisen, dann
kommt ihm Art. 20 StGB nicht zugute, selbst wenn er sich über den Sinn
der Ausweisungsverfügung geirrt haben sollte.