Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 210



100 IV 210

54. Urteil des Kassationshofes vom 9. September 1974 i.S. Vismara gegen
Staatsanwaltschaft von Graubünden. Regeste

    Art. 18 Abs. 3, 117 StGB. Fahrlässige Tötung.

    1.  Fahrlässigkeit des faktischen Leiters einer Bergsteigergruppe im
Hochgebirge (Erw. 2).

    2.  Rechtserheblicher Kausalzusammenhang zwischen Tat und Erfolg
(Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 6. August 1972 stieg Italo Vismara zusammen mit fünf andern
Bergsteigern in die Nordkante des Piz Badile ein. Nach einem längeren
Aufstieg gelangten die drei Zweierseilschaften ungefähr 100 bis 200 m
unterhalb des Gipfels an eine vereiste Runse, die einen Weiteraufstieg
ohne Fusseisen nicht ratsam erscheinen liess. Es wurde deshalb ca. um 17
Uhr beschlossen, auf der gleichen Route den Abstieg anzutreten. Vismara,
der die grösste Bergerfahrung und Fertigkeit in der Seilbehandlung hatte,
bereitete die Abseilstellen vor, wobei er jeweils als erster von einem
Felshaken zum nächst tieferen abstieg, um das aus zwei 40 m langen Seilen
zusammengeknüpfte Abstiegsseil an den Haken zu befestigen. Er ging dabei
so vor, dass er das Seil durch die Mehrfachschlaufe einer ca. 50-80 cm
langen Repschnur legte, die er zweimal durch den Felshaken zog. Er hatte
mehrere solche Repschnüre schon zu Hause zu Schlingen vorbereitet. Beim
Abstieg an dem befestigten Seil sicherte sich jedes Mitglied der Gruppe
mit einer eigenen Schlinge, die am Doppelseil mit einem Prusik-Knoten
und am Körper mit einem Karabiner am Brustgeschirr befestigt wurde.

    Um 20.30 Uhr, als es dunkel wurde, befestigte Vismara wiederum das
Abstiegsseil an einem Felshaken, stieg ca. 40 m ab und liess Giorgio
Zucchetti nachkommen. Nach 10 m Abstieg stürtzte Zucchetti 400 m tief auf
den Gletscher ab, wo er anderntags nur noch als Leiche geborgen werden
konnte. Der Körper des Verunfallten war durch das Brustgeschirr und
die Sicherheitslinie noch mit dem Hauptseil verbunden. Im Hauptseil lag
ausserdem eine unbeschädigte rote, aus einer Repschnur geknüpfte Schlinge.

    Ein in der Folge beigezogener Fachmann kam zum Schluss, dass der
Unfall auf einen Fehler bei der Befestigung des Hauptseils zurückgeführt
werden müsse, indem dieses nicht durch sämtliche Schlaufen der Schlinge
hindurchgezogen worden sei.

    B.- Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden verurteilte Vismara
wegen fahrlässiger Tötung zu einer Busse von Fr. 300.--.

    C.- Vismara führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Kantonsgerichtsausschusses sei aufzuheben und die Sache zu seiner
Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Staatsanwaltschaft Graubünden hat sich mit dem Antrag auf Abweisung
der Beschwerde vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Was der Beschwerdeführer unter Ziffer I seiner
Rechtsschrift vorbringt, betrifft mit Ausnahme der Rüge, er sei vor
Kantonsgerichtsausschuss nicht angehört worden, samt und sonders Tatfragen.
Solche werden jedoch vom kantonalen Richter für den Kassationshof
verbindlich beantwortet und können deshalb mit der Nichtigkeitsbeschwerde
nicht aufgeworfen werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b, 277 bis Abs. 1 BStP).

    Die Rüge der Verweigerung des rechtlichen Gehörs betrifft
Verfassungsrecht, dessen Verletzung mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht
geltend gemacht werden kann (Art. 269 BStP).

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer bestreitet, sich einer Fahrlässigkeit im Sinne
von Art. 18 Abs. 3 StGB schuldig gemacht zu haben. Wenn er auch eine etwas
grössere Bergerfahrung als die übrigen Mitglieder der Gruppe gehabt habe,
so sei ihm doch keine besondere Autorität über diese zugekommen, da er
ja nicht der Führer oder Chef der Seilschaften gewesen sei. Es müsse
deshalb zwischen seinem Fall und den in BGE 91 IV 117 und 181 sowie 98
IV 168 beurteilten Fällen ein Unterschied gemacht werden. Damals seien
die Angeklagten Gruppenchefs, Kursleiter oder Führer gewesen, denen in
dieser Eigenschaft eine besondere Verantwortung obgelegen habe. Das sei
bei ihm nicht der Fall gewesen. Vielmehr habe jedes Mitglied der Gruppe
für seine eigene Sicherheit sorgen müssen und sich nicht auf die anderen
verlassen dürfen. Er habe denn auch den andern nicht den Weg gebahnt,
noch das Beispiel gegeben oder die Art des Vorgehens gewiesen. Jeder
der anderen Teilnehmer habe sich so verhalten müssen, wie wenn er allein
gewesen wäre. Es könne ihm daher nicht die Verletzung einer Vorsicht zur
Last gelegt werden, zu der er nach den Umständen verpflichtet gewesen wäre.

    a) Dem Beschwerdeführer ist insoweit beizupflichten, dass nicht
jeder Mangel an Sorgfalt eines Glieds einer Bergsteigergruppe ein
strafbares Verschulden darstellt. Das Gesetz verlangt eine pflichtwidrige
Unvorsichtigkeit, mit andern Worten, es muss eine Rechtspflicht bestanden
haben, eine bestimmte Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen (BGE
98 IV 172). Eine solche Pflicht kann sich für den Betroffenen aus den
Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen ergeben. Dabei zählt zu
den Umständen auch die Besonderheit der Lage, die der Täter geschaffen hat
oder in der er sich befindet, während zu den persönlichen Verhältnissen
Anlage und Fähigkeiten, namentlich eine besondere Erfahrung und Fertigkeit
auf einem bestimmten Gebiet gehören (BGE 97 IV 172; SCHULTZ, Einführung I,
S. 141/142).

    b) Nach dem angefochtenen Urteil steht fest, dass der Beschwerdeführer
von allen Mitgliedern der Sechsergruppe die grösste Bergerfahrung und auch
die grösste Fertigkeit in der Seilbehandlung hatte. Daraus ergab sich,
dass er beim Abstieg die Abseilstellen vorbereitete, indem er den andern
von Felshaken zu Felshaken vorausging und jeweils das Hauptseil durch
Schlaufen an diesem Haken befestigte. Auch bei dem Felshaken, aus dem
sich das Seil vor dem Absturz Zucchettis löste, war Vismara so verfahren.
Danach war er als erster 40 m abgestiegen und hatte unten angekommen
hinaufgerufen, es solle als nächster Zucchetti absteigen, was dieser denn
auch ohne weiteres tat. Nach diesen für den Kassationshof verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz kann keinem Zweifel unterliegen, dass der
Beschwerdeführer jedenfalls für den Abstieg faktisch die Leitung der
Gruppe übernommen hatte und die andern seine Weisungen befolgten. In der
Tat ergibt sich auch aus deren Aussagen, dass sie die bergsteigerische
Überlegenheit Vismaras anerkannten und es ihm überliessen, ihnen auf den
schwierigsten Strecken vorauszugehen und die zum Abseilen geeignetsten
Stellen auszusuchen und vorzubereiten. Dass der Beschwerdeführer eine
"besondere Autorität" über die andern Teilnehmer der Tour hatte, ist
nicht erforderlich. Der Umstand, dass diese seine grössere Bergerfahrung
und Fertigkeit in der Seilbehandlung anerkannten und seinen Anordnungen
folgten, musste ihm bewusst machen, dass sie auf ihn vertrauten und
damit rechneten, er werde die zum Abstieg notwendigen Vorkehren mit der
ihre Sicherheit gewährleistenden Sorgfalt durchführen. Indem er diese
Rolle übernahm, nahm er auch die Pflicht zu einer solchen erhöhten
Vorsicht auf sich. Es kann deshalb keine Rede davon sein, dass Vismara
nur auf die eigene Sicherheit habe bedacht sein müssen. Als faktischer
Leiter der Gruppe bei dem gefährlichen Abstieg lag es vielmehr an
ihm, alles vorzukehren, um ein sicheres Abseilen seiner Kameraden
zu gewährleisten. Das hat er nach den tatsächlichen Annahmen des
Kantonsgerichtsausschusses nicht getan, indem er beim Befestigen des
Abstiegsseils an einem Felshaken nicht genügend darauf geachtet hatte,
dass es durch alle vier Schlaufen der Schlinge durchgezogen wurde. Es
fällt ihm deshalb eine Fahrlässigkeit im Sinne von Art. 117 in Verbindung
mit Art. 18 Abs. 3 StGB zur Last.

    Selbst wenn der Beschwerdeführer nicht faktischer Leiter der Gruppe
gewesen wäre, hätte er sich pflichtwidrig verhalten. Denn er hat das
Hauptseil fehlerhaft durch die Schlingen der Repschnur gezogen. Er hat
dabei gewusst oder wissen müssen, dass die nach ihm Absteigenden das
gleiche Seil benützen würden, ohne nachzuprüfen, ob er es richtig befestigt
habe. Durch das ihm unterlaufene Versehen hat er nicht nur sich selbst,
sondern auch die andern in eine konkrete Gefahr gebracht. Das durfte
er nicht; denn niemand darf durch ein Tun das Leben anderer gefährden
und vernichten. Dem Vorwurf pflichtwidrigen Verhaltens entginge er nur,
wenn er Zucchetti ersucht hätte, vor dem Abstieg nachzuprüfen, ob das
Seil richtig befestigt sei.

Erwägung 3

    3.- Den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem dem
Beschwerdeführer unterlaufenen Fehler und dem Tode Zucchettis hat die
Vorinstanz verbindlich festgestellt. Der Beschwerdeführer bestreitet
auch die Rechtserheblichkeit der Ursachenfolge nicht, sofern ihm eine
Fahrlässigkeit überhaupt zur Last falle - was wie gesagt zutrifft - und
man vom Verhalten Zucchettis absehe. Diesbezüglich stellt er sich auf den
Standpunkt, dass der Verunfallte einen groben Fehler begangen habe, indem
er vor dem Abstieg nicht selber nochmals die Sicherung des Hauptseils am
Felshaken kontrolliert habe; er sei damit bewusst ein Risiko eingegangen,
das für ihn ohne weiteres erkennbar gewesen sei. Der rechtserhebliche
Kausalzusammenhang sei dadurch unterbrochen worden.

    Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Der
rechtserhebliche Kausalzusammhang würde nur fehlen, wenn Zucchetti ein
so aussergewöhnliches Verhalten an den Tag gelegt hätte, dass damit
nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht hätte gerechnet werden müssen
(statt vieler BGE 91 IV 173). Davon kann nicht die Rede sein. Nachdem
der erfahrene Bergsteiger Vismara faktisch als Führer beim Abstieg
vorausgegangen war und bei jedem Felshaken die Vorbereitungen zum Abseilen
getroffen hatte, lag es nicht ausserhalb jeder normalen Erfahrung, dass
Zucchetti sich abseilen würde, ohne zuvor nochmals alle Sicherungen
im einzelnen nachzuprüfen. Mit einem solchen Verhalten musste hier
umsomehr gerechnet werden, als Vismara unmittelbar zuvor selber ohne jede
Schwierigkeit am gleichen Hauptseil abgestiegen war und hinaufgerufen
hatte, Zucchetti solle ihm folgen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.