Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 184



100 IV 184

45. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. April 1974
i.S. Priuli gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden Regeste

    Art. 34 Abs. 1 SVG. "Innerhalb der rechten Fahrbahnhälfte fahren"
bedeutet nicht, der Führer dürfe unter allen Umständen die geometrische
Hälfte der Fahrbahn beanspruchen; namentlich darf er das beim Kreuzen
dann nicht, wenn ihm eine Leitlinie eine schmälere Fahrspur zuweist.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Wie die erste Instanz feststellt, war die Fahrbahn an der
Unfallstelle 6 m breit und befand sich die 12 cm breite Leitlinie nicht
in der Mitte, sondern wies dem bergwärts fahrenden Beschwerdeführer
eine Fahrspur von 2.70 m und dem talwärts fahrenden Morellini eine
solche von 3.20 m zu. Daraus leitet der Beschwerdeführer zu Unrecht
ab, er habe Art. 34 Abs. 1 SVG nicht übertreten. Zwar gebietet diese
Bestimmung, auf breiten Strassen "innerhalb der rechten Fahrbahnhälfte" zu
fahren. Das bedeutet aber nicht, der Führer dürfe unter allen Umständen
die geometrische Hälfte der Fahrbahn für sich beanspruchen. Die in
Art. 34 Abs. 1 SVG ebenfalls enthaltenen Gebote, rechts zu fahren und
sich möglichst an den rechten Strassenrand zu halten, gehen vor, wenn die
Verhältnisse es erfordern. Namentlich darf ein Fahrzeug die geometrische
Hälfte beim Kreuzen dann nicht beanspruchen, wenn ihm eine Leitlinie eine
schmälere Fahrspur zuweist. Lcitlinien sind Markierungen und gehen daher
den allgemeinen Regeln vor (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 SVG). Sie befinden sich
nicht notwendigerweise auf der Mitte der Strasse. Nach Art. 52 Abs. 3 SSV
werden sie nicht nur zur Kennzeichnung der Strassenmitte, sondern auch zur
Begrenzung der Fahrspuren verwendet. Sie haben den Sinn, die Fahrbahn für
die Strassenbenützer in mehrere Streifen aufzuteilen. Jeder Führer darf
die Leitlinie nur mit der gebotenen Vorsicht überfahren (Art. 52 Abs. 3
letzter Satz SSV). Das gilt selbst dann, wenn die Strasse übersichtlich
ist, wie es im vorliegenden Falle zutraf; denn Leitlinien werden nicht
nur dort angebracht, wo die Sicht erschwert ist. Die Leitlinie darf nur
überfahren werden, wenn die nebenan verlaufende Spur nicht von anderen
Fahrzeugen benützt wird, die dadurch behindert werden könnten. Der
Beschwerdeführer hätte daher mit seinem Wagen vollständig rechts der
Leitlinie bleiben sollen, als er im Begriffe war, das von Morellini
geführte Fahrzeug zu kreuzen. Dass die Strasse, in der Fahrrichtung des
Beschwerdeführers gesehen, rechts durch eine Mauer gestützt ist und an
einen abfallenden Hang grenzt, ändert nichts. Die 2.70 m breite Fahrspur
genügte für den nur 1.58 m breiten Wagen des Beschwerdeführers. Ob dieser
im Zeitpunkt des Zusammenstosses schon vollständig oder beinahe stillstand,
ist unerheblich. Es kommt auch nichts darauf an, dass Morellini Art. 34
Abs. 1 SVG ebenfalls übertreten hat und angeblich den Zusammenstoss durch
Bremsen hätte verhüten können.