Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 17



100 IV 17

5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 3. Juli 1974
i.S. Jugendamt Zürich gegen X. Regeste

    Art. 98 Abs. 4 StGB. Diese Bestimmung ist nicht schematisch anzuwenden,
sobald die zeitliche Voraussetzung erfüllt ist. Vielmehr prüft der
Richter, ob das Verhalten des fehlbaren Jugendlichen während des Jahres
nach der Tat den Schluss auf eine innere Umkehr rechtfertige und jener
keiner strafrechtlichen Sanktion bedürfe, wobei Art und Schwere der Tat
sowie die persönlichen Verhältnisse des Jugendlichen zu berücksichtigen
sind.

Sachverhalt

    A.- Der am 25. November 1954 geborene X. beging im Mai und Juni 1972 in
drei verschiedenen Geschäften auf dem Platze Zürich Diebstähle, indem er
sich Filmapparate und andere Geräte, die er sich hatte vorführen lassen,
jeweils während einer kurzen Abwesenheit des Geschäftsinhabers aneignete
und mit ihnen verschwand. Im einen Fall stahl er einen Tonhallverstärker
im Einstandswert von Fr. 300.--, in zwei anderen Fällen Filmkameras im
Wert von Fr. 1250.-- und Fr. 646.--.

    B.- Mit Urteil vom 1. November 1973 fand das Jugendgericht des
Bezirksgerichtes Zürich X. fehlbar des wiederholten Diebstahls und
verurteilte ihn zu einem Monat Einschliessung. Es schob den Vollzug der
Freiheitsstrafe auf und setzte eine Probezeit von einem Jahr an.

    Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 14. März 1974 den
erstinstanzlichen Entscheid im Schuldpunkt, sah jedoch von einer Bestrafung
in Anwendung des revidierten Art. 98 Abs. 4 StGB ab.

    C.- Das Jugendamt des Kantons Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes aufzuheben und die Sache zur
Bestrafung des X. nach Art. 95 ff. StGB an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- 2. - Nach Art. 98 Abs. 4 StGB kann die urteilende Behörde von jeder
Massnahme oder Strafe absehen, wenn seit der Tat ein Jahr verstrichen
ist. Es handelt sich dabei um eine der Behörde eingeräumte Befugnis,
nicht um ein Obligatorium in dem Sinne, dass stets von einer Sanktion
abgesehen werden müsste, wenn jene zeitliche Voraussetzung erfüllt ist
(Prot. ExpKom B IV S. 52, Votum Moppert; SCHULTZ, Einführung in den
allg. Teil des Strafrechts, II S. 178 in Verbindung mit S. 170). Die
zuständige Behörde ist freilich in Ausübung jener Befugnis nicht absolut
frei. Ihr Ermessen muss vielmehr ein pflichtgemässes sein; sie muss sich,
mit anderen Worten, nach den im Gesetz liegenden Wertungen ausrichten
und ihren Entscheid auf sachlich vertretbare Gründe stützen (GERMANN,
Kommentar zum StGB, Bd. I N. 15 ff. zu Art. 1; SCHULTZ, aaO I S. 78 oben).

    a) Wie sich aus den Vorarbeiten zum heutigen Gesetz ergibt, wollten mit
dem revidierten Art. 98 StGB vor allem Härtefälle, denen unter der alten
Ordnung zu wenig Rechnung getragen werden konnte, vermieden und dem Richter
die Möglichkeit gegeben werden, "nach Mass" zu verfahren (Prot. ExpKom
BVI S. 49, Voten Reich und Veillard; BBl 1965 I S. 596). Nach der von
der genannten Expertenkommission beschlossenen Fassung sollte von jeder
Sanktion nur abgesehen werden können, "wenn sich aus der Untersuchung
ergibt, dass weder eine Massnahme noch eine Strafe notwendig ist"
(analog Art. 88 StGB; Beschlüsse der ExpKom BVI S. 3 und 11). Auch im
Entwurf der Eidg. Justizabteilung vom Mai 1964 wurde Art. 98 StGB noch
mit den Worten eingeleitet: "Ist weder eine Massnahme noch eine Strafe
notwendig, so kann...", während im analogen Art. 88 StGB ohne erkennbaren
Grund abweichend von den Beschlüssen der Expertenkommission jener Satzteil
weggefallen war (s. Prot. der stände- und nationalrätlichen Kommissionen
1964-1965 am Anfang). Entsprechend lautete sodann auch der Entwurf des
Bundesrates. Auf die genannte Differenz in der Fassung von Art. 88 und
98 StGB wurde erstmals in der Kommission des Ständerates hingewiesen
und festgestellt, dass zwischen den beiden Bestimmungen materiell
kein Unterschied bestehe. In der Folge wurde der Wortlaut des Art. 98
StGB demjenigen des Art. 88 StGB angeglichen (Prot. Kommission des StR
17.19. August 1966, S. 202, Voten Zellweger und Kurt; StenBull StR 1967,
S. 80).

    Der Werdegang des revidierten Art. 98 StGB weist unzweifelhaft auf
pädagogische Überlegungen hin (s. z.B. Prot. Kommission des StR 17.-19.
August 1966, S. 201 in fine; REHBERG, Verhältnis von Strafe und Massnahme
im schweiz. Jugendstrafrecht, in ZStR 1971, S. 231 ff), die ihren
deutlichen Niederschlag vor allem in den Absätzen 2 und 3 gefunden haben,
in deren Zusammenhang denn auch Absatz 4 verstanden werden muss. Danach
soll vermieden werden, dass eine sich abzeichnende günstige Entwicklung
des fehlbaren Jugendlichen irgendwie durch strafrechtliche Massnahmen oder
Strafen gestört werde, die zu dessen Besserung nichts mehr beitragen können
(BGE 94 IV 58), sei es, dass bereits anderweitig, z.B. durch die Eltern
usw. das Nötige vorgekehrt wurde, sei es, dass der Jugendliche durch sein
eigenes aktives Verhalten seit der Tat eine innere Umkehr (z.B. tätige
Reue) oder durch sein Wohlverhalten während einer längeren Zeit ernsthaft
seinen Besserungswillen bekundet hat. Wenn der Gesetzgeber diese Zeit
auf ein Jahr bemessen hat, so offenbar aus der Überlegung heraus, dass
beim noch ungereiften Jugendlichen ein Wohlverhalten während einer solchen
Zeitdauer bereits ein gewichtiges Indiz für eine Besserung sein kann, deren
Fortdauer nicht durch unnötige strafrechtliche Sanktionen in Frage gestellt
werden soll, zumal namentlich die Bedeutung von Strafen für den fehlbaren
Jugendlichen mit zunehmender Entfernung ihres Vollzuges von der Tat auch
rasch abnimmt. Der Umstand, dass die ursprüngliche Fassung des Art. 98
StGB nicht zum geltenden Gesetzestext erhoben wurde, ist kein Grund,
die heutige Bestimmung nicht doch im Lichte der Entstehungsgeschichte
auszulegen. Gegenteils besteht dazu umso mehr Anlass, als - wie bereits
bemerkt - diese keinen Anhalt dafür gibt, dass von jenem zunächst klar
zum Ausdruck gebrachten Zweckgedanken in der Folge bewusst und gewollt
abgerückt wurde.

    Ist dem aber so, dann darf der Richter Art. 98 Abs. 4 StGB nicht
schematisch anwenden, sobald die zeitliche Voraussetzung erfüllt ist. Er
muss vielmehr prüfen, ob das Verhalten des fehlbaren Jugendlichen während
des Jahres nach der Tat den Schluss auf eine innere Umkehr rechtfertige
und jener keiner strafrechtlichen Sanktion bedürfe (REHBERG, aaO S. 238
oben). Dabei wird er Art und Schwere der Tat berücksichtigen und die
persönlichen Verhältmsse des Jugendlichen in Betracht ziehen, namentlich
ob es sich um einen jungen Gelegenheitsdelinquenten handelt, der aus
Unwissenheit, Sorglosigkeit, Leichtsinn und dergleichen den Fehltritt
begangen hat (BGE 96 IV 12), oder um einen sittlich verwahrlosten,
verdorbenen oder gefährdeten Jugendlichen. Auch wird die Behörde
beachten müssen, dass bei schweren Verfehlungen strengere Anforderungen
an die Gewähr zu stellen sind, die der Jugendliche für seine Besserung
bieten muss. Wo der Richter nach pflichtgemässer Würdigung des Falles
zur Überzeugung gelangt, dass eine strafrechtliche Sanktion nicht mehr
notwendig ist, kann er von ihr absehen. Mehr verlangt das Gesetz nicht.

    Insbesondere folgt weder aus den Materialien noch dem Wortlaut und
dem Sinn des Art. 98 Abs. 4 StGB, dass die einjährige Frist bereits im
Zeitpunkt der Einleitung der Untersuchung abgelaufen sein müsse. Eine Wende
zur Besserung kann der Jugendliche auch während der Strafuntersuchung und
unter Umständen gerade unter ihrem Eindruck nehmen. Warum dem unter dem
erzieherischen Gesichtspunkt, der im Jugendstrafrecht vor dem Sühnegedanken
den Vorrang hat (BGE 94 IV 58), nicht Rechnung getragen werden sollte, ist
nicht zu ersehen. Freilich wird damit in vielen Fällen Art. 98 Abs. 4 StGB
zur Anwendung gelangen können. Das aber wurde im Gesetzgebungsverfahren
keineswegs übersehen (Prot. ExpKom BV S. 49, Votum Veillard; s. auch
GERMANN, Grundzüge der Partialrevision des schweiz. StGB durch das Gesetz
vom 18. März 1971, in ZStR 1971, S. 352). Auch werden Rechtssicherheit und
Rechtsgleichheit nicht in Frage gestellt noch das Jugendstrafrecht aus den
Angeln gehoben, wenn die zuständige Behörde bei ihrem Ermessensentscheid
pflichtgemäss verfährt (GERMANN, Kommentar zum StGB, Bd. I, N. 15.3
zu Art. 1).

    b) Die Vorinstanz hat in Anwendung von Art. 98 Abs. 4 StGB erwogen,
dass das Verschulden des Beschwerdegegners wegen des Vorgehens bei
der Tat und deren Wiederholung nicht leicht wiege. Dagegen seien der
übrige Leumund und die schulischen Leistungen gut. Auch sei X., der weder
sittlich verwahrlost noch verdorben oder gefährdet ist, nicht vorbestraft.
Das zum Teil hartnäckige Leugnen könne ihm nicht zur Last gelegt werden,
weil bei den Einvernahmen immer der Vater anwesend geWesen sei, weshalb
das Verhalten des Jugendlichen durchaus mit der Angst vor elterlichen
Strafen erklärbar sei. Auch hätte er bei Zugabe seiner Verfehlungen mit
einer Wegweisung aus dem Gymnasium rechnen müssen, was ihn kurz vor der
Maturitätsprüfung hart treffen würde. X. habe sich schliesslich während
21 Monaten offensichtlich bewährt. In Würdigung all dieser Umstände und
der persönlichen Verhältnisse sei ihm daher eine Gelegenheit zur Bewährung
für sein späteres Leben zu geben. Von Strafen und Massnahmen könne auch
deswegen abgesehen werden, weil die Eltern des Beschwerdegegners in der
Lage und fähig seien, ihrem Sohn die notwendige Führung zu bieten.

    Daraus erhellt, dass das Obergericht Art. 98 Abs. 4 StGB nicht
schematisch, sondern entsprechend den vorgenannten Grundsätzen angewendet
hat. Es ist folglich von zutreffenden rechtlichen Voraussetzungen
ausgegangen. Auch hat es bei der Würdigung der konkreten Verhältnisse sein
Ermessen nicht überschritten. Zwar ist es X. mit weitgehendem Wohlwollen
begegnet. Doch kann nicht gesagt werden, es sei dabei willkürlich
verfahren. Die Gründe, welche es für seinen Entscheid anführt, lassen
sich sachlich vertreten. Was aber die Annahme der Vorinstanz anbelangt,
das zum Teil hartnäckige Leugnen des X. sei aus der Angst vor elterlichen
Strafen zu erklären, ist sie ebenso tatsächlicher Natur wie diejenige,
wonach der Beschwerdegegner bei einem Geständnis mit einer Wegweisung
aus dem Gymnasium hätte rechnen müssen. Beide Feststellungen binden den
Kassationshof und werden deshalb vom Beschwerdeführer unzulässigerweise
bestritten. Es muss somit beim angefochtenen Urteil sein Bewenden haben.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten
ist.