Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 150



100 IV 150

38. Urteil des Kassationshofes vom 9. Juli 1974 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Aargau gegen F. Regeste

    Art. 113 StGB; Totschlag. Entschuldbarkeit der heftigen Gemütsbewegung.

Sachverhalt

    A.- Anna F. lebt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in gemeinsamem
Haushalt. In diesem verkehrte seit Jahren ihr Schwager Michele F., der
dort seine Mahlzeiten einnahm. Da Anna F. mit ihrem Schwager seit rund 10
Jahren ein intimes Verhältnis unterhielt, lebte sie während dieser Zeit in
einer ausgeprägten Konfliktslage, denn sie war auch ihrem Ehemann Antonio
zugetan. Als sie sich in den letzten Jahren zurückzuziehen versuchte,
wurde sie von Michele F. unter Anwendung von massiver Gewalt oft mehrmals
täglich zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Als Michele F. am 20. Februar
1973 um ca. 12.15 Uhr wie üblich zum Mittagessen heimkam, setzte sich Anna
F. zu ihm an den Tisch, nachdem sie ihm das Essen aufgetragen hatte. Es kam
zu einer erregten Auseinandersetzung, in deren Verlauf Michele F. seine
Schwägerin u.a. als Hure bezeichnete. Darauf ergriff die Beschimpfte
plötzlich das auf dem Tisch liegende Fleischmesser und stiess es gegen
die Brust des Michele F., ohne ihn jedoch zu verletzen. Nachdem beide
aufgesprungen waren, stiess Anna F. ihm das Messer nochmals von vorne
unterhalb des linken Schulterbeins in den Leib, wodurch sie eine 12-13 cm
tiefe Stichwunde und eine völlige Durchtrennung der grossen Arterie zum
linken Arm mit Blutung nach aussen und innen bewirkte, in deren Gefolge
Michele F. starb.

    B.- Das Geschwornengericht des Kantons Aargau erklärte Anna F. am
19. Februar 1974 des Totschlags gemäss Art. 113 StGB schuldig und
verurteilte sie zu 18 Monaten Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug.

    C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag
auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Staatsanwaltschaft ficht die Annahme des Geschwornengerichts,
dass sich die Beschwerdegegnerin der vorsätzlichen Tötung in einer heftigen
Gemütsbewegung schuldig gemacht hat, nicht an. Hingegen bestreitet sie,
dass diese heftige Gemütsbewegung, wie der Tatbestand des Totschlags nach
Art. 113 StGB weiter voraussetzt, nach den Umständen entschuldbar gewesen
sei, wie die Vorinstanz angenommen hat.

    Nach der vom Geschwornengericht nicht verkannten Rechtsprechung (BGE
82 IV 88) ist die einer Tötung zu Grunde liegende heftige Gemütsbewegung
nicht schon dann entschuldbar, wenn sie aus den gesamten objektiven und
subjektiven Umständen heraus psychologisch erklärt werden kann. Der
Begriff der. Entschuldbarkeit verlangt vielmehr eine Bewertung nach
ethischen Grundsätzen. Die Gemütsbewegung darf nicht ausschliesslich
oder vorwiegend egoistischen, gemeinen Trieben entspringen, sondern
muss durch die sie auslösenden äussern Umstände gerechtfertigt
erscheinen. Wie in der 2. Expertenkommission wiederholt hervorgehoben
wurde, muss die Gemütsbewegung z.B. durch eine Provokation, durch eine
ungerechte Kränkung oder durch eine Notlage verursacht worden sein, um
entschuldbar zu sein (BGE 82 IV 88). Bei Beurteilung der Entschuldbarkeit
ist auch der Persönlichkeit des Täters Rechnung zu tragen; es ist
ihm daher nicht irgendein Mensch zum Vergleich gegenüberzustellen,
sondern jemand aus gleichen Umweltverhältnissen, wobei auch Erziehung
und Charaktereigenschaften einzubeziehen sind. Ferner sind nicht bloss
die der Tat unmittelbar vorausgehenden, sondern allenfalls auch weiter
zurückliegende Umstände zu berücksichtigen, die ebenfalls auf den Täter
einwirkten.

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz hat sich gefragt, ob angesichts des langjährigen
ehebrecherischen Verhältnisses zwischen der Beschwerdegegnerin und Michele
F. mit allen seinen Verumständungen der ersteren nicht eine gewichtige
Mitverantwortung und Mitschuld an der sie belastenden Konfliktslage
zugeschrieben werden müsse. Sie stellt fest, dass die Beschwerdegegnerin
in der Untersuchung zunächst erklärt hatte, für Michele F. anfänglich
"so etwas wie Liebe empfunden" und sich ihm zwar widerwillig gebeugt,
"den Geschlechtsverkehr aber nicht als unangenehm und es anfänglich auch
nicht als unangenehm empfunden zu haben, zwei Männer zu befriedigen". In
der Verhandlung vor Geschwornengericht habe sie dann jedoch beteuert,
"ihrem Schwager seit der Einreise in die Schweiz im Jahre 1964 eine
tiefe Abneigung entgegengebracht und sich nur unter dem Druck seiner
Gewaltanwendung zum Geschlechtsverkehr hingegeben zu haben". Die
Vorinstanz konnte diesen Widerspruch zwischen den beiden Darstellungen
nicht beheben; sie musste die Frage offen lassen, welche von beiden der
Wahrheit entspreche.

    b) Für sie war entscheidend, dass, auch wenn die Beschwerdegegnerin
an der Entstehung und Führung dieses ehebrecherischen Verhältnisses eine
Mitverantwortung oder Mitschuld treffen sollte, jedenfalls in der Zeit von
1970 bis zur Tat vom 20. Februar 1973 das intime Verhältnis zwischen der
Beschwerdegegnerin und Michele F. nur noch auf Grund "einer intensiven
Gewalteinwirkung" des letzteren weiterbestand. Deshalb widerspricht
die in der Beschwerde aufgestellte Behauptung, die Beschwerdegegnerin
habe aus freiem Willen das ehebrecherische Verhältnis und die intimen
Beziehungen mit Michele F. über 10 Jahre hinweg gepflegt und damit
ihre schwere Konfliktssituation selbst verschuldet, jedenfalls für
die entscheidenden Jahre 1970-73 den von der Vorinstanz getroffenen
tatsächlichen Feststellungen, weshalb sie für den Kassationshof
nicht massgebend sein kann (Art. 277 bis Abs. 1 BStP). Dasselbe
gilt für die Behauptung, die Beschwerdegegnerin habe zugegeben,
den Geschlechtsverkehr mit F. nicht ungern gehabt zu haben. Für
diese letzte Zeit stellt die Vorinstanz vielmehr verbindlich fest,
Michele F. habe die Beschwerdegegnerin wie ein Dienstmädchen behandelt,
habe sie geschlagen und bei jeder Gelegenheit beschimpft und in der
Familie der Beschwerdegegnerin Unfrieden und Zwietracht gestiftet. Da
Michele F. nicht nur der Beschwerdegegnerin, sondern auch deren Ehemann
an Körperkräften weit überlegen gewesen sei, hätten sich diese beiden
Personen gegen die Gewalttätigkeit und Herrschsucht F's. nicht wirksam
zur Wehr setzen können. Die Vorinstanz nimmt weiter als erwiesen an,
dass F. zumindest seit 1970 nur unter brutaler Gewaltanwendung und
bedenkenloser Ausnutzung ihrer Wehrlosigkeit die Beschwerdegegnerin für
seine sexuellen Ansinnen gefügig machen konnte und wegen dieser völligen
Missachtung ihrer Persönlichkeit bei ihr ein Hassgefühl erweckt habe. Auf
die Schwere der von F. angewendeten Gewalteinwirkungen schliesst die
Vorinstanz verbindlich einmal aus der Tatsache, dass die Beschwerdegegnerin
wegen der ständigen Misshandlungen die Polizei um Hilfe angehen musste,
wobei sie den im erzwungenen Sexualverkehr liegenden Grund dieser
Misshandlungen verschwieg. Die Schwere der Misshandlungen, mit denen
F. jeweils den Geschlechtsverkehr erzwang, folgert die Vorinstanz auch
aus der Tatsache, dass man an der Beschwerdegegnerin beim Eintritt
in die Klinik Königsfelden viele ältere und jüngere Verletzungen
(vernarbte Stichwunden, Blutergüsse, KratzWunden, Schürfungen und
Prellungen) vorgefunden hat. Mit solchen brutalen Gewaltakten erzwang
der von der Beschwerdegegnerin als sexueller Unhold geschilderte F. von
dieser oft mehrmals täglich den Geschlechtsverkehr. Die Zwangslage,
in die F. die Beschwerdegegnerin durch seine Skrupellosigkeit brachte,
war umso unerträglicher, als sie ihrem Ehemann trotz allem zugetan war
und aus religiösen Gründen wegen ihres Verhaltens von schlechtem Gewissen
geplagt war, aber keinen Ausweg mehr fand. Das Geschwornengericht stellt
für den Kassationshof bindend fest, dass sich die Beschwerdegegnerin zur
Tatzeit in einer Konfliktslage von kaum mehr erträglichem Ausmass und
in einem Zustand äusserster Affektstauung befand, für die Michele F. in
ausschlaggebendem Masse verantwortlich war.

    c) Auf dieser psychologischen Grundlage spielten sich die Vorgänge
unmittelbar vor der Tat ab. Die Vorinstanz nimmt als erstellt an, dass
F. auch am 20. Februar 1973 zunächst wieder einen handfesten Streit
verschuldet hat, indem er aus Eifersucht der Beschwerdegegnerin eine
Arzt-Vorladung weggenommen hat, die sie für eine Konsultation mit einem
ihrer Kinder in Zürich benötigte, indem er die Beschwerdegegnerin ferner
bei der Heimkehr zum Mittagessen beschimpft und grundlos geschlagen
hat und indem er wegen des Arztbesuchs in Zürich in einem eigentlichen
Eifersuchtsanfall der Beschwerdegegnerin vorwarf, sie hure in Zürich
herum, weil sie an ihrem Wohnort hiezu zu wenig Gelegenheit habe. Als ihm
die Beschwerdegegnerin deswegen einen Stoss versetzte, gab F. ihr eine
Ohrfeige, worauf die Beschwerdegegnerin in einem Wutanfall unvermittelt
den tödlichen Stich führte.

    d) Mit Grund hebt das Geschwornengericht hervor, dass F.  die
Beschwerdegegnerin unmittelbar vor der Tat mit dem Vorwurf, sie sei
eine Hure ("putana"), nicht nur schwer beleidigt, sondern ihr mit seiner
Anschuldigung gerade die Lage vorgeworfen hat, die er ihr selbst durch
seine Gewaltanwendungen gegen ihren Willen aufgezwungen hatte. Sein
Gehaben unmittelbar vor der Tat war daher schwer provokativ; denn es
bedeutete für die Beschwerdegegnerin nicht bloss eine tiefe Kränkung,
sondern auch eine unerhörte Ungerechtigkeit. Angesichts der zumindest
seit 1970 vorbestandenen äusserst gespannten Ausgangslage lassen diese
Verumständungen die heftige Erregung, aus der heraus die Beschwerdegegnerin
zum Messer griff, als entschuldbar erscheinen. Der Zynismus, mit dem
F. der seiner Gewalttätigkeit ausgelieferten Frau gerade die Lebensführung
vorwarf, zu der er sie zumindest seit 1970 gegen ihren Willen zwang, und
die tiefe Verachtung, die er ihr dabei wegen dieser Lebensführung noch
unmittelbar vor der Tat bezeugte, hätten auch eine andere Frau als eine
heissblütige und am Rand ihrer Widerstandskraft angelangte Südländerin in
einen blinden Wutanfall und in Verzweiflung zu versetzen vermocht. Das
Gebaren F.s bedeutete gegenüber der Beschwerdegegnerin Provokation und
ungerechte Kränkung, wie sie der 2. Expertenkommission als klassischer
Entschuldigungsgrund in Sinne von Art. 113 StGB vorgeschwebt hatte. Mit
Recht hat die Vorinstanz die Beschwerdegegnerin daher gemäss dieser
Bestimmung schuldig gesprochen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.