Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 137



100 IV 137

35. Urteil des Kassationshofes vom 10. Mai 1974 i.S. Guntli gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 42 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Auch derjenige kann verwahrt
werden, der das neue Verbrechen oder Vergehen während des Straf- oder
Massnahmevollzuges oder während der bedingten, aber vor der endgültigen
Entlassung aus einer Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe, einer Verwahrung
oder einer Arbeitserziehung verübt hat (Praxisänderung).

Sachverhalt

    A.- Am 17. September 1973 erklärte das Strafamtsgericht von Thun
Albin Guntli des Diebstahls und des Diebstahlsversuchs, der Anstiftung
zur Veruntreuung und der fortgesetzten Veruntreuung, der Hehlerei, des
Betruges und des fortgesetzten Betrugsversuches sowie des wiederholten
Führens eines Motorfahrzeugs als Lernfahrer ohne Begleitperson und ohne
Anbringen des "L"-Schildes schuldig und verurteilte ihn zu 18 Monaten
Zuchthaus sowie Fr. 100.-- Busse. Anstelle des Strafvollzugs ordnete es
die Verwahrung nach Art. 42 StGB an.

    Guntli appellierte mit dem Antrag, von der Verwahrung abzusehen. Am 15.
Januar 1974 bestätigte das Obergericht des Kantons Bern die Verwahrung.

    B.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Guntli, das Urteil aufzuheben
und die Sache zur neuen Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen. Er
beanstandet lediglich die Anordnung der Verwahrung.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Hat der Täter schon zahlreiche Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich
verübt und wurde ihm deswegen durch Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen
oder eine Arbeitserziehungsmassnahme die Freiheit während insgesamt
mindestens zwei Jahren entzogen, oder war er an Stelle des Vollzugs von
Freiheitsstrafen bereits als Gewohnheitsverbrecher verwahrt, und begeht er
innert fünf Jahren seit der endgültigen Entlassung ein neues vorsätzliches
Verbrechen oder Vergehen, das seinen Hang zu Verbrechen oder Vergehen
bekundet, so kann der Richter an Stelle des Vollzugs einer Zuchthaus-
oder Gefängnisstrafe Verwahrung anordnen (Art. 42 Ziff. 1 Abs. 1 StGB).

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer bestreitet mit Recht nicht, dass seine
seit der Volljährigkeit verbüssten 10 Gefängnisstrafen insgesamt das
gesetzliche Mindestmass von zwei Jahren überschreiten. Hinzu kommt eine
Arbeitserziehung von zwei Jahren. Diese Sanktionen wurden wegen zahlreicher
vorsätzlicher Verbrechen und Vergehen ausgesprochen. Seither hat er erneut
vorsätzlich Verbrechen und Vergehen begangen.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer ist am 29. Januar 1972 bedingt aus dem
Strafvollzug entlassen worden. Die Probezeit betrug 2 Jahre. Die
Verbrechen, die zu seiner neuen Verurteilung führten, hat er in der
Zeit vom Dezember 1972 bis zum 3. März 1973, also während der Probezeit
verübt. Er macht geltend, er habe diese Verbrechen nicht "innert fünf
Jahren seit der endgültigen Entlassung" begangen, wie es das Gesetz für
die Anordnung der Verwahrung voraussetze. Es geht also um die Frage,
welche Bedeutung der endgültigen Entlassung zukommt. Unbestritten
ist, dass ein vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen, das nach Ablauf
der fünfjährigen Frist seit der endgültigen Entlassung verübt wird,
nicht mehr zur Verwahrung führen kann. Hat der Täter sich solange
vorsätzlicher Verbrechen oder Vergehen enthalten, wird von Gesetzes wegen
angenommen, er habe keinen Hang zu Verbrechen oder Vergehen, er sei kein
Gewohnheitsverbrecher im Sinne des Gesetzes. Streitig ist, ob der Rückfall
in ein vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen, das während des Straf- oder
Massnahmenvollzuges oder während der bedingten, aber vor der endgültigen
Entlassung verübt wird, die Einweisung in eine Verwahrungsanstalt im
Sinne von Art. 42 StGB ebenfalls ausschliesst.

    Nach BGE 98 IV 1 kann der Richter in diesem Falle für die neue Tat
keine Verwahrung gemäss Art. 42 aussprechen. Diese Praxis wurde angefochten
(SCHULTZ, ZBJV 1973 S. 411 f. und Lehrbuch, Allg.T. II S. 143; REHBERG,
ZStR 1973 S. 282 f.). Die Frage ist erneut zu prüfen.

    a) Der Wortlaut des Gesetzes ("und begeht er innert fünf Jahren
seit der endgültigen Entlassung ein neues vorsätzliches Verbrechen oder
Vergehen"; "si ... le délinquant commet, dans les cinq ans qui suivent
sa libération définitive, un nouveau crime ou délit intentionnel..."; "e
commette, entro cinque anni dalla liberazione definitiva, un nuovo crimine
o delitto intenzionale...") spricht eher für die bisherige Praxis. Begeht
der Täter vor der endgültigen Entlassung die Tat, begeht er sie eben nicht
innert fünf Jahren seit der endgültigen Entlassung. Der Gesetzestext gibt
Anfang und Ende der kritischen Zeit an, nicht nur das Ende. Der Nachweis,
dass der Gesetzgeber sich ungenau und missverständlich ausgedrückt hat
und lediglich den Endtermin angeben wollte, nach dem eine neue Tat nicht
mehr zur Verwahrung führen kann, ist damit nicht ausgeschlossen.

    b) Die Entstehungsgeschichte legt die Annahme nahe, dass das
Gesetz mit der fünfjährigen Frist lediglich den Endtermin festlegen
wollte. Der Ständerat beschloss zunächst, dass die neue Tat einen
Rückfall gemäss Art. 67 StGB darstelle ("... und wird er wegen der neuen
vorsätzlichen Tat, die seinen Hang zu Verbrechen oder Vergehen bekundet,
nach Art. 67 wegen Rückfalls zu einer Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe
verurteilt..."). "Ein Täter, der nach Verbüssung einer Zuchthaus- oder
Gefängnisstrafe oder nach Vollzug einer sichernden Massnahme 5 Jahre
nicht delinquiert hat, hat sich nach der Meinung der Kommission vom Makel
des Gewohnheitsverbrechers befreit" (Votum des Referenten Zellweger,
Amtl.Bull. StR 1967 S. 58 f.). Man wollte somit lediglich einen Endtermin
setzen; denn Rückfall ist schon während des Strafvollzugs und während der
bedingten Entlassung möglich, sofern nur ein Teil der Strafe verbüsst
worden ist. Der Nationalrat beschloss dann die heutige Fassung, aber
einzig, um den Endtermin hinauszuschieben, nicht, um der Erheblichkeit der
neuen Tat einen Anfangstermin zu setzen (Amtl. Bull. NR 1969 S. 110 f.,
Votum des Referenten Schmid). Der Ständerat schloss sich dieser Änderung an
(Amtl. Bull. StR 1970 S. 97, Votum des Referenten Guisan).

    c) BGE 98 IV 3 E 3 geht von der Überlegung aus, nur wer die volle
resozialisierende Wirkung der frühern Strafe oder Massnahme mit Einschluss
der bedingten Entlassung an sich erfahren habe, zeige, dass der Vollzug
der Strafe an ihm wirkungslos gewesen sei.

    Die bisher veröffentlichten Urteile befassten sich mit Tätern, die
sich in Verwahrung befanden oder aus der Verwahrung bedingt entlassen
worden waren. Nur für diese Fälle würde der Einwand zutreffen, die
Verwahrung sichere primär die Gesellschaft, bezwecke nur nebenbei die
Besserung. Es könne daher nicht darauf abgestellt werden, ob der Täter
die volle Wirkung des resozialisierenden Vollzuges an sich erfahren
habe. Die praktische Bedeutung der Kontroverse betrifft aber nicht den
Täter, der aus der Verwahrung bedingt entlassen wird. Wird ein Verwahrter
während der Probezeit rückfällig, wird er in der Regel auf mindestens 5
Jahre in die Verwahrung rückversetzt (Art. 42 Ziff. 4 Abs. 3). In dieser
Verwahrung geht die für die neue Tat verwirkte Freiheitsstrafe unter
(VStGB 1 Art. 2 Abs. 7). Ob der Täter für die neue Tat verwahrt oder
bestraft wird, ist daher ohne grosse Bedeutung.

    War der Täter aber zur Zeit der Tat aus dem Vollzug einer Strafe oder
einer Arbeitserziehungsanstalt bedingt entlassen, war die resozialisierende
Wirkung des Vollzugs noch nicht abgeschlossen, die Wirkungslosigkeit des
Vollzugs noch nicht manifest.

    Entscheidend ist hingegen der folgende Einwand: Schliesst man für die
neue Tat, die während des Strafvollzugs, während dessen Unterbrechung,
auf der Flucht oder während der bedingten Entlassung verübt wird, die
Verwahrung schlechtweg aus, so könnte auch der nicht verwahrt werden,
der stets schon rückfällig wird, bevor er endgültig entlassen werden
konnte. Eine Verwahrung wäre auch dann ausgeschlossen, wenn Art und Zahl
der Verbrechen keinen Zweifel mehr darüber aufkommen lassen, dass der
Täter ein Gewohnheitsverbrecher ist, den die gewöhnlichen Strafen nicht
mehr bessern werden und vor dessen Kriminalität die Gesellschaft dringend
geschützt werden muss. Diese Folge wäre aber mit dem Zweck der Verwahrung
gemäss Art. 42 StGB nicht mehr vereinbar. Die Vorinstanz hat also Art. 42
Ziff. 1 Abs. 1 StGB richtig dahin ausgelegt, dass auch derjenige verwahrt
werden kann, der das neue Verbrechen oder Vergehen während der bedingten
Entlassung aus einer Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe verübt hat. Das
gleiche würde gelten, wenn er die neue Tat beginge, nachdem er bedingt
aus einer Verwahrung oder Arbeitserziehung entlassen worden wäre. Dem
Umstande, dass der noch nicht endgültig Entlassene noch nicht die volle
Wirkung des Vollzuges erfahren hat, kann beim Entscheide Rechnung getragen
werden, ob für die neue Tat von einer Verwahrung abgesehen werden kann,
weil begründete Erwartung besteht, auch der Vollzug einer Freiheitsstrafe
werde den Täter bessern.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer bestreitet ferner, dass die subjektiven
Voraussetzungen der Verwahrung erfüllt seien. Ob die neuen vorsätzlichen
Taten einen "Hang zu Verbrechen oder Vergehen" bekunden, ist eine Tatfrage,
die von der Beurteilung des Charakters und der Persönlichkeit des Täters
abhängt. Ferner ist es weitgehend Ermessenssache des Sachrichters, ob schon
der Vollzug der verwirkten Freiheitsstrafe die Gesellschaft hinreichend
vor dem vielfach Rückfälligen zu sichern vermag. Nur wenn der Sachrichter
von einem falschen rechtlichen Begriff des Gewohnheitsverbrechers ausgeht,
sein Ermessen überschreitet oder den geistigen Zustand des Täters nicht
untersuchen lässt, verletzt er Bundesrecht.

    Die längste bisher verbüsste Freiheitsstrafe betrug zwar lediglich 9
Monate Gefängnis. Immerhin musste der Beschwerdeführer seit 1967 viermal
zu gesamthaft einem Jahr Gefängnis verurteilt werden; zweimal wurde ihm die
Verwahrung angedroht. Innerhalb ungefähr 14 Monaten seit der am 29. Januar
1972 erfolgten bedingten Entlassung beging er zahlreiche neue Verbrechen
und entfaltete damit trotz Schutzaufsicht eine aktive Kriminalität. Das
Gutachten kommt zum Schluss, die Gefahr weiterer Betrügereien sei recht
erheblich. Die Anordnung der Verwahrung verstiess demnach nicht gegen
Bundesrecht. Die Vorinstanz hat ihr Ermessen nicht überschritten.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.