Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 II 420



100 II 420

62. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 5. November 1974
i.S. Intholding SA gegen Real Estate Investment Company AG Regeste

    Bundesgesetz über die Anlagefonds.

    Art. 53 Abs. 1 und 54 Abs. 1 AFG. Im Verhältnis zwischen Anleger
und Fondsleitung besteht seit dem Inkraftreten des AFG kein Raum für die
weitere Geltung abweichender Reglemente oder Vereinbarungen.

    Art. 21 Abs. 1 AFG. Das freie Widerrufsrecht des Anlegers darf durch
das Fondsreglement oder individuelle Vereinbarungen weder ausgeschlossen
noch eingeschränkt werden (Erw. 2).

    Art. 21 Abs. 2 und 36 Abs. 1 und 2 AFG. Verhältnis dieser Vorschriften
(Erw. 4b).

    Art. 29 Abs. 1 AFG. Anleger, die bei der Auflösung des Fonds
vertraglich noch gebunden sind, können sich gegenüber einem Anleger, der
den Kollektiv-Anlagevertrag vor der Auflösung des Fonds gültig widerrufen
hat, nicht auf den Gleichbehandlungsanspruch berufen (Erw. 5).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Die Real Estate Investment Company AG mit Sitz in Zug (REIC)
errichtete am 17. November 1961 unter dem Namen "World Investment Fund"
(WIF) einen internationalen Liegenschaften-Anlagefonds. Ihr waren gemäss
Ziffer 12 der Verwaltungsordnung die Leitung, Verwaltung und Vertretung
des Fonds übertragen. Sie gab Anteilscheine über einen oder zehn Anteile
zum Preise von Fr. 1000.-- pro Anteil heraus.

    Am Fonds in erheblichem Umfange beteiligt war Graf Augusto
Chiericati in Mailand. Er schloss mit der REIC am 11. Dezember 1963 eine
Vereinbarung ("Convenzione"), welche davon ausgehend, dass ihm bereits
7030 WIF-Anteile gehörten und er durch Option Inhaber von insgesamt 9726
Anteilen sein werde, im Interesse beider Parteien terminierte Rücknahmen
von Anteilscheinen festlegte. Für davon nicht erfasste Anteilscheine
wurde bestimmt dass sie, vorbehältlich des Einverständnisses der REIC,
bis 31. Dezember 1968 weder zur Rücknahme vorgelegt noch verkauft werden
durften.

    Die Firma Intholding SA hatte am 28. Dezember 1965 von Graf Chiericati
3594 Anteile erworben. Mit Schreiben vom 15. September 1967 verlangte sie
von der REIC die Rücknahme der Anteile auf den 1. Januar 1969. Dieses
Begehren wurde von der REIC am 3. Januar 1968 so - wie gestellt -
bestätigt.

    Die REIC bzw. deren Verwaltungsratspräsident hatten vor dem
31. Dezember 1968 eine grössere Anzahl Anteile zurückgenommen. Am 1. Januar
1969 besass die Intholding SA noch 1.725 Anteile.

    B.- Am 1. Februar 1967 war das Bundesgesetz über die Anlagefonds
vom 1. Juli 1966 in Kraft getreten. Als Folge davon beschloss die REIC
laut entsprechender Mitteilung vom 11. Februar 1969 an die Inhaber von
Anteilscheinen WIF Serie A, "den Fonds ab 1. März 1969 aufzulösen
und alle Vermögenswerte des Fonds unter Wahrung der Interessen
aller Anteilscheininhaber zu veräussern und diesen das Ergebnis der
Liquidation auszuzahlen". Gemäss Art. 29 des Gesetzes könne "allfälligen
Rücknahmebegehren nicht entsprochen werden".

    Mit der Intholding SA ergab sich eine Meinungsverschiedenheit
darüber, ob deren Anteile am 1. Januar 1969 oder am 1. Januar 1970
hätten zurückbezahlt werden müssen und ob je nachdem Art. 29 des
Anlagefonds-Gesetzes auf das Rücknahmebegehren anwendbar sei oder
nicht. Daher belangte die Intholding SA am 10. Juli 1970 die REIC auf
Zahlung von Fr. 1714876.-- sowie eines Verzugszinses von 5% ab 15. Februar
1970 auf dem Kapital von Fr. 1614600.--. Die Gerichte des Kantons Zug,
das Obergericht mit Urteil vom 5. März 1974, wiesen die Klage ab.

    C.- Das Bundesgericht hob auf Berufung der Klägerin am 5. November
1974 das Urteil des Obergerichtes auf und verpflichtete die Beklagte
in Gutheissung der Klage, der Klägerin Fr. 1559045.60 nebst 5% Zins ab
15. März 1973 auf Fr. 1226475.-- zu bezahlen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz ist mit dem Kantonsgericht der Meinung, dass der
Auszahlungsanspruch der Klägerin den Widerruf des Kollektiv-Anlagevertrages
voraussetze, der unbestrittenermassen mit Schreiben der Klägerin vom 15.
September 1967 erklärt worden sei. Sie anerkennt, dass das am 1. Februar
1967 in Kraft gesetzte AFG eine neue Rechtslage schaffte und folglich
die Beklagte die Anteile der Klägerin ungesäumt auszuzahlen hätte, wenn
der WIF noch bestehen würde. Die Beklagte habe jedoch mit Schreiben vom
11. Februar 1969 den Anteilschein-Inhabern mitgeteilt, dass der WIF ab
1. März 1969 aufgelöst werde. Sie habe ab diesem Zeitpunkt gemäss Art. 29
Abs. 1 AFG keine Anteilscheine zurücknehmen dürfen. Da sie nicht schon am
1. Januar 1969, sondern erst am 1. Januar 1970 zur Auszahlung verpflichtet
gewesen sei, gelte das gesetzliche Rücknahmeverbot.

Erwägung 2

    2.- In grundsätzlicher Hinsicht ist festzuhalten, dass im Verhältnis
zwischen Anleger und Fondsleitung seit dem Inkrafttreten des AFG kein Raum
für die weitere Geltung abweichender Reglemente oder Vereinbarungen besteht
(vgl. Art. 53 Abs. 1 und 54 Abs. 1 AFG). Diese Regelung gilt nicht nur für
die öffentliche Aufsicht und die Revision der Anlagefonds, sondern "auch
für die privatrechtliche Ordnung der Beziehungen zwischen Fondsleitung,
Depotbank und Anleger, soweit das Gesetz zum Schutze der Anleger zwingende
Vorschriften aufstellt" (Botschaft des Bundesrates, BBl. 1965 III 313
ff.). Nach Art. 8 Abs. 4 AFG gehen die Bestimmungen "dieses Titels", das
heisst der Art. 8 bis 36 dem Fondsreglement vor, "wo nicht abweichende
Vorschriften ausdrücklich vorbehalten sind". Der Kollektiv-Anlagevertrag
untersteht grundsätzlich den Vorschriften über den Auftrag (Art. 8 Abs. 3
AFG). Der Anleger kann ihn daher wie diesen (Art. 404 OR) jederzeit frei
widerrufen (Art. 21 Abs. 1 AFG). Dieses Widerrufsrecht darf durch das
Fondsreglement oder individuelle Vereinbarungen weder ausgeschlossen noch
eingeschränkt werden (z.B. Vorbehalt einer Kündigungsfrist; vgl. BGE 98 II
307 Erw. 2 betreffend Art. 404 OR; Botschaft, aaO S. 297). Solange nicht
der Anlagefonds aufgelöst oder gekündigt wird und das Rücknahmeverbot des
Art. 29 AFG gilt, ist Art. 21 Abs. 1 AFG absolut wirksam (vgl. JÄGGI,
La loi sur les fonds de placement, in JdT 19671 S. 228, 239; JEANPRETRE,
Le contrat de placement collectif dans le système du droit des obligations,
in Festgabe für Wilhelm Schönenberger 1968, S. 289, 292, 302 f; HAEFLIGER,
Die Auflösung des Kollektivanlagevertrages, Diss. Zürich, 1969, S. 58 ff;
LOREZ, Das Fondsreglement nach dem Bundesgesetz über die Anlagefonds,
Diss. Zürich 1972, S. 7 f; SCHUSTER, Anlagefondsgesetz, zu Art. 21
Anm. 1). Die Zweijahresfrist des Art. 54 Abs. 2 AFG für die Anpassung
der Fondsreglemente ändert nichts. Sie betrifft die "formelle Bereinigung
der Situation durch Anpassung des Wortlautes des Fondsreglementes an das
neue Recht", während materiell mit dem Inkrafttreten des Gesetzes "die
ihm widersprechenden Bestimmungen des Fondsreglementes aufgehoben und
durch die entsprechenden Bestimmungen des Gesetzes ersetzt" worden sind
(Botschaft, aaO S. 314).

Erwägung 3

    3.- Das Rücknahmebegehren für die WIF-Anteile wurde von der
Klägerin am 15. September 1967, mithin nach dem Inkrafttreten des AFG,
"per" 1. Januar 1969, d.h. auf ein Datum vor der Fondsauflösung,
gestellt und so von der Beklagten in der Antwort vom 3. Januar 1968
entgegengenommen. Da nach dem Gesagten (vgl. Erw. 2) seit dem 1. Februar
1967 und bis zum 1. März 1969 für das Widerrufsrecht des Anlegers und
die Auszahlungspflicht der Fondsleitung Art. 21 Abs. 1 AFG allein galt,
kommt nichts darauf an, dass die Klägerin in ihrem Schreiben ausser
auf die eidgenössische Gesetzgebung auch auf die Verwaltungsordnung WIF
und die "Convenzione" vom 11. Dezember 1963 Bezug nahm. Innerhalb der
genannten Periode konnte sie ohnehin den Zeitpunkt des Widerrufs frei
wählen. Fondsreglement und Vereinbarung bestanden nicht mehr, soweit sie
Art. 21 Abs. 1 AFG widersprachen. Es geht also im vornherein nicht an,
daraus in Verbindung mit dem Korrespondenzwechsel zwischen den Parteien
entscheidende Folgerungen zu ziehen, die auf eine unzulässige Abweichung
von der zwingenden gesetzlichen Widerrufsbestimmung hinauslaufen, wie
die kantonalen Gerichte es tun.

Erwägung 4

    4.- a) ...

    b) Das Obergericht erklärt wie nach Ziff. 10 des Reglementes könne
der Anleger gemäss Art. 21 und 36 AFG die "Auszahlung verlangen", wobei
der Fondsleitung hiefür zwölf Monate zur Verfügung ständen. Ziff. 10 des
Reglementes und Art. 21 AFG stimmten mit der Formulierung überein, welche
die Klägerin in ihrem Schreiben vom 15. September 1967 verwendet habe. Da
"beide Bestimmungen eine zwölfmonatige Rückzahlungsfrist" enthielten,
könne aus dem Begriff "Rückkaufsgesuch" nicht abgeleitet werden, "es sei
keine Kündigungs- oder Wartefrist einzuhalten".

    Entscheidend ist indessen nicht, dass der Anleger nach Ziff. 10 des
Reglementes und Art. 21 AFG die Rückzahlung "verlangen" kann. Massgebend
ist vielmehr, dass Ziff. 10 des Reglementes für den Rückkauf der
Anteile eine Kündigungsfrist vorsieht, während Art. 21 Abs. 1 AFG das
Widerrufsrecht und den Auszahlungsanspruch "jederzeit" gewährt. Nach
Art. 21 Abs. 2 AFG hat die Fondsleitung sogleich Anlagen zu verwerten,
wenn der Fonds nicht die für die Auszahlung benötigten flüssigen Mittel
enthält. In Abweichung davon gewährt Art. 36 Abs. 1 AFG dem Immobilienfonds
eine Frist von zwölf Monaten; nach Abs. 2 kann diese im Fondsreglement
verkürzt oder auf höchstens 24 Monate verlängert werden. Im BGE 94 I 488/9
wurde erklärt, diese Möglichkeit sei an keine besonderen Voraussetzungen
gebunden; nach dem neuen Gesetz könne daher jeder Immobilienfonds ohne
weiteres die Verwertungsfrist auf 24 Monate ansetzen. Reglemente, die
bei Inkrafttreten des Gesetzes eine solche Regelung enthielten, würden
durch Art. 54 Abs. 1 AFG nicht aufgehoben. Damit wird bloss gesagt,
dass der Gesetzgeber die Befugnis zur reglementarischen Verlängerung
der Verwertungsfrist nicht von bestimmten Voraussetzungen abhängig
macht. Das bedeutet nicht, dass es der Leitung eines Immobilien-
oder eines gemischten Anlagefonds freigestellt sei, ob sie sofort nach
Widerruf des Kollektiv-Anlagevertrages oder zu einem beliebigen Zeitpunkt
innert der gesetzlichen Frist die Grundstücke verwerten und die Anleger
auszahlen wolle. Die Bedingung des Art. 21 Abs. 2 AFG gilt für den
Immobilien-Anlagefonds wie für den Wertschriften-Anlagefonds. Nur wo sie
erfüllt ist, d.h. der Anlagefonds nicht über für die Auszahlung benötigten
flüssigen Mittel verfügt und deswegen Grundstücke zu verwerten sind, kann
von der in Art. 21 Abs. 1 aufgestellten Regel, dass der Auszahlungsanspruch
des Anlegers mit dem Widerruf des Kollektiv-Anlagevertrages fällig wird,
abgewichen und die Frist des Art. 36 AFG angewendet werden. Darüber lassen
Sinn und Zweck der zitierten Bestimmungen in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2
AFV keine Zweifel offen. Sie werden denn auch so ausgelegt (vgl. Botschaft
aaO S. 302 ff; HAEFLIGER, aaO S. 60; desgleichen offenbar auch JÄGGI, aaO
S. 239). Art. 36 AFG wäre also zugunsten der Beklagten nicht schlechthin,
sondern nur dann anzuwenden, wenn ihr am 1. Januar 1969 flüssige Mittel
zur sofortigen Befriedigung der Klägerin gefehlt hätten. Das zu behaupten
und nötigenfalls zu beweisen, war Sache der Beklagten. Das Obergericht
stellt indessen nicht fest, dass die Beklagte dieser Pflicht nachgekommen
sei. Daher kann offen bleiben, ob die zwölf-monatige Frist des Art. 36 AFG
für die Grundstückverwertung am 1. Januar 1969 oder - wie die Klägerin
annimmt - bereits mit dem Empfang des Rückzahlungsbegehrens der Klägerin
vom 15. September 1967 zu laufen begonnen hätte.

Erwägung 5

    5.- Nach Art. 29 Abs. 1 AFG dürfen Anteilscheine weder zurückgenommen
noch neu ausgegeben werden, wenn der Anlagefonds aufgelöst oder von
der Fondsleitung oder der Depotbank gekündigt wird. Es fragt sich, ob
dieses Rücknahmeverbot auch dann gilt, wenn, wie hier, die Klägerin den
Kollektiv-Anlagevertrag auf den 1. Januar 1969 widerrufen hat, ihr aber
die Anteile vor dem Beschluss über die Auflösung des Fonds ab 1. März 1969
nicht ausbezahlt worden sind. Diese Frage wird vom Sekretär der Kammer für
Anlagefonds der Eidgenössischen Bankenkommission in einer bei den Akten
liegenden schriftlichen Auskunft an den Rechtsvertreter der Beklagten
vom 20. Oktober 1972 bejaht. Er betrachtet es als stossend, wenn ein
Anleger zu Lasten des Fondsvermögens zu einem Inventarwert ausbezahlt
würde, der auf Schätzungen beruhe; Art. 29 Abs. 1 AFG liege der Gedanken
zugrunde, dass nach dem Auflösungsbeschluss auf alle an diesem Zeitpunkt
ausgegebenen Anteile das tatsächliche Liquidationsergebnis nach Verkauf
aller Anlagen ausbezahlt werde und kein Anleger durch eine auf Schätzung
beruhende Auszahlung gegenüber den anderen Anlegern begünstigt oder
benachteiligt werden solle. So zutreffend diese Ansicht auch sein mag
(vgl. Botschaft aaO S. 326), so wenig ist sie für die Auseinandersetzung
der Parteien massgebend. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Klägerin
den Kollektiv-Anlagevertrag auf den 1. Januar 1969 berechtigterweise
widerrufen, jedoch die Beklagte die Auszahlung der Anteile pflichtwidrig
unterlassen hat. In einem solchen Falle kann der Anleger nach Art. 23
Abs. 1 AFG auf Erfüllung klagen, und zwar auch "dann, wenn die Klage
Auswirkungen auf alle Anleger hat" (vgl. dazu Botschaft, aaO S. 297). Die
Durchsetzung des Klagerechts geht der Verwirklichung des in Art. 29 Abs. 1
AFG angestrebten Grundgedankens vor, wenn es, wie hier, vor der Auflösung
des Fonds entstanden und die Erfüllung nicht möglich ist. Art. 29 Abs. 1
AFG trifft nach Sinn und Zweck auf den vorliegenden Fall nicht zu. Ein
Gleichbehandlungsanspruch kommt Anlegern, die bei der Auflösung des
Fonds vertraglich noch gebunden sind, gegenüber einem Anleger, der den
Kollektiv-Anlagevertrag vor der Auflösung des Fonds gültig widerrufen
hat, nicht zu. Er kann somit nicht dadurch verletzt werden, dass der
unbefriedigt gebliebene Anleger auf Erfüllung klagen darf. Unmöglichkeit
der Erfüllung wendet die Beklagte nicht ein. Sie ist weder zu vermuten
noch ergibt sie sich daraus, dass der Fonds seit dem 1. März 1969 sich
in Auflösung befindet.

    Die Klage ist somit grundsätzlich zu schützen.