Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 III 8



100 III 8

3. Entscheid vom 29. März 1974 i.S. Borer Regeste

    Beschwerdefrist; Art. 17 Abs. 2 SchKG.

    Wird eine Beschwerde gegen eine Verfügung des Betreibungsbeamten
versehentlich beim Betreibungsamt statt bei der zuständigen
Aufsichtsbehörde eingereicht, so ist sie von Amtes wegen an die
Aufsichtsbehörde zu überweisen und gilt der Zeitpunkt der Einreichung
beim Betreibungsamt als Zeitpunkt der Beschwerdeführung (Anderung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- In den Betreibungen Nr. 29523 und 29683 des Betreibungsamtes
Märstetten wurde dem Schuldner Marcel Borer am 27. November 1973
der Konkurs angedroht. Mit einer Eingabe an das Betreibungsamt,
die dort am 6. Dezember 1973 einging, erhob der Schuldner gegen die
Konkursandrohungen BeschWerde. Das Betreibungsamt wies die Eingabe mangels
Zuständigkeit zurück, worauf sich der Schuldner am 3. Januar 1974 beim
Gerichtspräsidium Weinfelden als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde gegen
die Konkursandrohungen beschwerte. Der Gerichtspräsident trat mit Entscheid
vom 30. Januar 1974 auf die Beschwerde nicht ein, weil er sie für verspätet
hielt. Eine Beschwerde des Schuldners gegen diesen Entscheid wurde von
der Rekurs-Kommission des Obergerichtes des Kantons Thurgau als oberer
kantonaler Aufsichtsbehörde mit Beschluss vom 4. März 1974 abgewiesen.

    B.- Gegen diesen Beschluss rekurriert der Schuldner an die
Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts. Er macht
sinngemäss geltend, die lotägige Beschwerdefrist gemäss Art. 17
Abs. 2 SchKG sei mit der rechtzeitigen Einreichung der Beschwerde beim
Betreibungsamt eingehalten gewesen; dieses sei verpflichtet gewesen,
seine Eingabe an die zuständige Behörde weiterzuleiten.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gegen jede Verfügung eines Betreibungsamtes kann innert einer
Frist von 10 Tagen bei der Aufsichtsbehörde Beschwerde geführt werden
(Art. 17 Abs. 1 und 2 SchKG). Wird eine Beschwerde bei einer dem Grad
nach unzuständigen kantonalen Aufsichtsbehörde eingereicht, so ist sie
nach Art. 75 Abs. 2 OG von Amtes wegen an die zuständige Aufsichtsbehörde
zu überweisen und gilt der Zeitpunkt der Einreichung als Zeitpunkt der
Beschwerdeführung. Die Beschwerdefrist ist jedoch nach der bisherigen
Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht gewahrt, wenn die Beschwerde
statt bei der Aufsichtsbehörde beim Betreibungsamt eingereicht worden
ist (BGE 84 III 140 Erw. 1, 40 III 235/236; ebenso die kantonale Praxis,
vgl. ZR 1926 Nr. 138, BlSchK 1945 S. 165).

Erwägung 2

    2.- Wo das Bundesrecht wie im vorliegenden Fall eine Frist festsetzt,
unterliegt auch die Frage ihrer Einhaltung dem Bundesrecht (BGE 95 I 165
Erw. 4). Insbesondere entscheidet sich nach Bundesrecht, ob eine solche
Frist durch Einreichung einer Eingabe bei einer unzuständigen Behörde
gewahrt werden könne (BGE 95 I 165 Erw. 4; GULDENER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 2. Aufl., S. 233 N. 28). Nun hat die neuere Gesetzgebung
des Bundes auf dem Gebiet der Verwaltungsrechtspflege ausdrücklich
angeordnet, dass eine innert Frist an eine unzuständige Behörde gerichtete
Eingabe zur Wahrung der Frist genügt und von Amtes wegen an die zuständige
Behörde weiterzuleiten ist (Art. 21 Abs. 2 des BG vom 20. Dezember 1968
über das Verwaltungsverfahren, Art. 107 Abs. 1 und 2 OG in der Fassung
gemäss BG vom 20. Dezember 1968 über die Änderung des OG; vgl. auch Art. 96
Abs. 1 und Art. 32 Abs. 3 OG). Wie in BGE 96 III 98 ausgeführt Wurde,
stehen die Vorschriften des Betreibungsrechts über das Verfahren und
die Organisation der Betreibungsbehörden dem Verwaltungsrecht nahe. Das
Bundesgericht hat daher in jenem Entscheid angenommen, es erscheine nicht
von vornherein als unzulässig, den Art. 75 Abs. 2 OG, obwohl er nur von
der Einreichung einer Beschwerde bei einer dem Grad nach unzuständigen
kantonalen Aufsichtsbehörde spreche, auf den Fall der Beschwerdeführung
bei einer örtlich unzuständigen Aufsichtsbehörde entsprechend anzuwenden
(vgl. dazu AMONN, ZBJV 1972 S. 164; BIRCHMEIER, N. 2 zu Art. 75 OG). Die
Frage konnte damals jedoch offen gelassen werden.

    Die erwähnten Bestimmungen der neueren Gesetzgebung des Bundes,
wonach eine innert Frist an eine unzuständige Behörde gerichtete Eingabe
zur Wahrung der Frist genügt, dürfen als Ausdruck eines im gesamten
Bundesrecht anwendbaren Grundsatzes gelten (BGE 95 I 167; vgl. auch
IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl., II,
S. 683). Es liegt ihnen der Gedanke zugrunde, dass der Rechtssuchende
nicht ohne Not um die Beurteilung seines Rechtsbegehrens durch die
zuständige Instanz gebracht werden soll (BGE 94 I 285). Dementsprechend
hat das Bundesgericht in BGE 95 I 166/167 Erw. 5 entschieden, auf eine
Beschwerde gegen den Entscheid über den Nachlassvertrag (Art. 307 SchKG)
sei von Bundesrechts wegen einzutreten, wenn sie rechtzeitig beim iudex
ad quem statt beim hierfür zuständigen iudex a quo eingereicht worden sei
(vgl. auch BGE 71 III 170 ff.). Aus dem gleichen Grund kann es einem
Beschwerdeführer nicht schaden, wenn er seine Beschwerde gegen eine
Verfügung des Betreibungsbeamten versehentlich beim Betreibungsamt statt
bei der Aufsichtsbehörde einreicht. In Abweichung von der bisherigen
Praxis ist daher davon auszugehen, die lotägige Beschwerdefrist gemäss
Art. 17 Abs. 2 SchKG sei mit der rechtzeitigen Einreichung der Beschwerde
beim Betreibungsamt gewahrt (GROMME, Rechtsvorschlag und Beschwerde
im schweizerischen Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, Diss. Zürich
1967, S. 46).

Erwägung 3

    3.- Gilt aber der Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerde beim
Betreibungsamt als Zeitpunkt der Beschwerdeführung, so ist die Beschwerde
des Rekurrenten als rechtzeitig zu betrachten (die Konkursandrohungen
wurden am 27. November 1973 zugestellt, während die Beschwerde am
6. Dezember 1973 beim Betreibungsamt einging). Der Rekurs ist daher
gutzuheissen und die Sache zur materiellen Behandlung der Beschwerde an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

Entscheid:

Demnach erkennt die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer:

    Der Rekurs wird gutgeheissen und der angefochtene Beschluss aufgehoben;
die Sache wird zur materiellen Behandlung der Beschwerde an die Vorinstanz
zurückgewiesen.