Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 III 73



100 III 73

19. Auszug aus dem Entscheid vom 29. März 1974 i.S. Tuchfabrik Escholzmatt
AG Regeste

    Revision bundesgerichtlicher Entscheide. Der Revisionsgrund von
Art. 136 lit. d OG kann auch dann gegeben sein, wenn das Bundesgericht
eine in den Akten liegende erhebliche Tatsache nicht infolge eines eigenen
Versehens, sondern deshalb nicht berücksichtigt, weil die kantonale Behörde
ein Aktenstück, das sie ihm hätte einsenden sollen, zurückbehalten hat.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer trat am 17. Oktober 1973
auf einen Rekurs gegen den Entscheid einer kantonalen Aufsichtsbehörde
nicht ein, weil die Rekursschrift nicht unterschrieben war. Sie bemerkte
dabei in ihren Erwägungen: "Es fehlt auch ein Begleitbrief, der die
Unterschrift der Rekurrentin oder ihres Vertreters tragen würde, was
nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Heilung des Formmangels
zur Folge hätte (BGE 83 II 514 Erw. 1)."

    Am 11. November 1973 ersuchte die Rekurrentin das Bundesgericht
um Revision dieses Entscheides, weil sie ihren Rekurs der Vorinstanz
entgegen der Annahme des Bundesgerichts mit einem von ihr unterzeichneten
Begleitschreiben zur Weiterleitung an das Bundesgericht eingereicht
habe. Eine Erkundigung bei der Vorinstanz ergab die Richtigkeit dieser
Darstellung. Deshalb wurde das Revisionsgesuch geschützt und der Entscheid
vom 17. Oktober 1973 aufgehoben.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Revision eines bundesgerichtichen Entscheides ist nach Art. 136
lit. d OG zulässig, wenn das Gericht in den Akten liegende erhebliche
Tatsachen aus Versehen nicht berücksichtigt hat.

    Der von der Rekurrentin unterzeichnete Begleitbrief zum Rekurs
vom 6. Oktober 1973, auf den das Bundesgericht am 17. Oktober 1973 wegen
Nichtunterzeichnung der Rekursschrift und Fehlens eines unterzeichneten
Begleitbriefs nicht eintrat, lag dem Bundesgericht nicht vor, als es seinen
Nichteintretensentscheid fällte. Die Akten, die dem Bundesgericht damals
vorlagen, enthielten auch keinen Hinweis auf diesen Begleitbrief. Bei
streng wörtlicher Auslegung von Art. 136 lit. d OG lässt sich daher nicht
sagen, das Bundesgericht habe diesen Begleitbrief, der nach BGE 83 II 514
Erw. 1 zum Eintreten auf den Rekurs geführt hätte, "aus Versehen nicht
berücksichtigt" (vgl. zum allgemeinen Sinn dieser Wendung BGE 96 I 280
Erw. 3 mit Hinweisen).

    Die kantonale Aufsichtsbehörde, bei welcher die Rekurrentin ihren
Rekurs vom 6. Oktober 1973 gemäss Art. 78 Abs. 1 OG zur Weiterleitung an
das Bundesgericht eingereicht hatte, hätte jedoch der Schuldbetreibungs-
und Konkurskammer des Bundesgerichts mit der Rekursschrift und den Akten
des kantonalen Beschwerdeverfahrens auch den erwähnten, an sie gerichteten
Begleitbriefübermitteln sollen; denn nach Art. 80 Abs. 1 OG hat die
kantonale Aufsichtsbehörde dieser Kammer ausser den Rekursschriften und
deren Beilagen "sämtliche Akten" einzusenden.

    Behält die kantonale Instanz ein Aktenstück zurück, weil sie es
übersieht oder irrtümlich nicht zu den einzusendenden Akten rechnet,
und entdeckt das Bundesgericht diesen Mangel nicht, so darf daraus der
Partei, zu deren Ungunsten dieser Umstand den Entscheid des Bundesgerichts
beeinflusst, kein Nachteil entstehen. Vielmehr muss dieser Partei die
Revision des bundesgerichtlichen Entscheids wegen Nichtberücksichtigung
einer in den Akten liegenden erheblichen Tatsache offen stehen, wie wenn
ein eigenes Versehen des Bundesgerichts an der Nichtberücksichtigung des
betreffenden Aktenstücks schuld wäre (BGE 42 II 76 f. Erw. 2; BIRCHMEIER,
N. 5 b zu Art. 136 OG; FORNI, Svista manifesta, fatti nuovi e prove nuove
nella procedura di revisione davanti al Tribunale federale, in Festschrift
Max Guldener, 1973, S. 83 ff., 92 f. und 89, zweitletzter Absatz von
Anm. 15). Das muss zum mindesten dann gelten, wenn die benachteiligte
Partei im frühern Verfahren die kantonalen Akten bei Ausarbeitung ihrer
Rechtsschrift an das Bundesgericht nicht vor sich hatte oder aus einem
andern Grunde nicht in der Lage war, die kantonale Instanz oder das
Bundesgericht auf die Unvollständigkeit der Akten aufmerksam zu machen
und so den Beizug des fehlenden Aktenstücks zu erwirken (vgl. FORNI,
aaO S. 94 vor lit. c, der in Frage stellt, ob im gegenteiligen Falle
als Revisionsgrund geltend gemacht werden könne, die Plaidoyernotizen,
welche der Revisionskläger als Zusammenfassung der mündlichen Vorträge
im Sinne von Art. 51 Abs. 1 lit. b Abs. 2 OG behandelt wissen möchte,
hätten dem Bundesgericht im frühern Verfahren nicht vorgelegen und die
Akten seien deshalb unvollständig gewesen).

    Die Voraussetzungen, unter denen hienach wegen Unvollständigkeit der
dem Bundesgericht eingesandten Akten die Revision nach Art. 136 lit. d OG
zu bewilligen ist, sind im vorliegenden Falle erfüllt. Die Rekurrentin,
die vor Erhalt des Entscheides vom 17. Oktober 1973 nicht wissen konnte,
dass ihr Begleitbrief zum Rekurs an das Bundesgericht nicht bei den diesem
eingesandten Akten lag, hat das Revisionsgesuch innert der 30tägigen Frist
von Art. 141 Abs. 1 lit. a OG in einer den Anforderungen von Art. 140 OG
genügenden Form gestellt. Daher ist der Nichteintretensentscheid vom 17.
Oktober 1973 aufzuheben und der Rekurs vom 6. Oktober 1973 materiell
zu behandeln.