Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 III 30



100 III 30

9. Entscheid vom 16. April 1974 i.S. Novima

AG Regeste

    Masseverbindlichkeiten im Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung:
Art. 316 c Abs. 2 SchKG.

    1.  Die ab Stundungsdatum geschuldeten Beiträge an
Sozialversicherungseinrichtungen sind Masseverbindlichkeiten (Erw. 1).

    2.  Masseverbindlichkeiten werden vom Nachlassvertrag nicht erfasst
und dürfen daher sofort bezahlt werden (Erw. 2).

Sachverhalt

    Der Novima AG, die einen Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung
anstrebt, wurde am 18. September 1973 eine Nachlassstundung von 4 Monaten
gewährt. Mit Schreiben vom 19. Dezember 1973 forderte der Sachwalter
die Schuldnerin auf, die ab Stundungsdatum bis Ende 1973 geschuldeten
Beiträge an die AHV/IV/EO und FAK bis 5. Januar 1974 abzurechnen und der
Ausgleichskasse abzuliefern. Zwei Tage später ersuchte er sie, der SUVA
einen Beitrag von Fr. 5365.-- als Vorausprämie für 1974 zu überweisen.

    Gegen diese beiden Verfügungen des Sachwalters führte die Novima AG
Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs des
Kantons St. Gallen mit der Begründung, sie seien den Verhältnissen nicht
angemessen. Die Aufsichtsbehörde wies die Beschwerde mit Entscheid vom 16.
Januar 1974 ab.

    Diesen Entscheid zieht die Novima AG an die Schuldbetreibungs- und
Konkurskammer des Bundesgerichts weiter. Sie beantragt, ihrem Rekurs sei
aufschiebende Wirkung zu erteilen.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist zunächst, ob die während der Nachlassstundung
aufgelaufenen Beiträge an die AHV/IV/EO und FAK sowie die SUVA-Prämien
als Masseverbindlichkeiten zu betrachten seien. Da die Rekurrentin
einen Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung anstrebt, beurteilt sich
diese Frage nach Art. 316c Abs. 2 SchKG. Gemäss dieser Bestimmung sind
diejenigen Verpflichtungen als Masseverbindlichkeiten anzusehen, die
während der Nachlassstundung mit Zustimmung des Sachwalters eingegangen
worden sind. Nun sind zwar die Beiträge an Sozialversicherungseinrichtungen
keine Leistungen, zu denen sich ein Schuldner vertraglich verpflichten
und denen der Sachwalter zustimmen könnte, sondern sie sind von Gesetzes
wegen geschuldet. Auch solche öffentlich-rechtliche Verpflichtungen
können indessen den Charakter von Masseverbindlichkeiten haben (BGE 96 I
247, 75 III 22; BÖNI, Die Masseverbindlichkeiten im Nachlassvertrag mit
Vermögensabtretung, Diss. Freiburg 1959 S. 33 ff.; ders., BlSchK 1962
S. 70/71). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie unmittelbar
mit einer Masseverbindlichkeit verknüpft sind. So hat das Bundesgericht
z.B. entschieden, die Warenumsatzsteuerpflicht für Lieferungen, die der
Schuldner während der Nachlassstundung mit Zustimmung des Sachwalters
ausgeführt hat, sei eine Verbindlichkeit der Masse (BGE 96 I 244
ff.). Gleich muss es sich verhalten bei Sozialversicherungsbeiträgen,
wenn die Lohnschulden, nach denen sie sich bemessen (vgl. z.B. Art. 13
AHVG), ihrerseits Masseverbindlichkeiten sind.

    Gerade dies scheint aber die Rekurrentin zu bestreiten, wenn sie
geltend macht, dem Schuldner sei von Gesetzes wegen gestattet, während der
Nachlassstundung sein Geschäft weiterzuführen, woraus hervorgehe, dass
dazu die Zustimmung des Sachwalters nicht notwendig sei. Gewiss bedarf
der Schuldner nicht der Zustimmung des Sachwalters, um sein Geschäft
weiterzuführen. Er untersteht dabei aber dessen Aufsicht (Art. 298
Abs. 1 SchKG). Der Sachwalter kann dem Schuldner insbesondere Weisungen
hinsichtlich der Geschäftstätigkeit erteilen, z.B. ihm verbieten, eine
bestimmte Schuld einzugehen. Erteilt er in bezug auf das Personal keine
Weisungen (z.B. Entlassungen, Kurzarbeit), so ist anzunehmen, er stimme
den während der Fortführung des Geschäftes entstehenden Lohnschulden zu
(die Zustimmung kann auch stillschweigend erfolgen; BÖNI, Diss. S. 42,
BlSchK 1962 S. 77). Im vorliegenden Fall fehlt es an einer solchen
Weisung. Die vom Stundungsdatum an geschuldeten Löhne und demzufolge auch
die damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Verpflichtungen gegenüber
der Ausgleichskasse und der SUVA sind daher als Masseverbindlichkeiten
zu betrachten. Im übrigen kann nach der Lehre die Zustimmung im Sinne
von Art. 316c Abs. 2 SchKG auch nachträglich erteilt werden (BÖNI,
Diss. S. 41, BlSchK 1962 S. 76). Die Aufforderung an die Rekurrentin,
die Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen, brachte klar zum Ausdruck,
dass der Sachwalter diesen Verpflichtungen zustimmte und dass er sie als
Masseverbindlichkeiten behandelt wissen wollte.

Erwägung 2

    2.- Masseverbindlichkeiten dürfen sofort bezahlt werden, denn
sie werden vom Nachlassvertrag nicht erfasst. Anders liesse sich die
Weiterführung des Geschäftes während der Stundung häufig gar nicht
durchführen, werden doch die Geschäftspartner des Nachlassschuldners
nur dann zu weiteren Lieferungen bereit sein, wenn ihnen sofortige
Bezahlung zugesichert wird (CORADI, Der Sachwalter im gerichtlichen
Nachlassverfahren nach Art. 293 ff. SchKG, Diss. Zürich 1973 S. 27;
JAEGER, N. 1 zu Art. 298 SchKG). Die Massegläubiger können den Schuldner
trotz der Stundung sogar betreiben, allerdings nur auf Pfändung (Art. 316d
Abs. 2 SchKG; LUDWIG, Der Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung,
Diss. Bern 1970 S. 39/40, 101; BÖNI, Diss. S. 92, BlSchK 1962 S. 140;
für die Masseschulden im Konkurs vgl. entsprechend BGE 50 III 174; JAEGER,
N. 4 zu Art. 206 SchKG; FAVRE, Droit despoursuites, 3. Aufl. S. 299). Denn
das Zwangsvollstreckungsverbot in Art. 297 und 316a Abs. 2 SchKG bezieht
sich nur auf diejenigen Forderungen, die unter den Nachlassvertrag
fallen, was bei den Masseverbindlichkeiten nicht der Fall ist (LUDWIG,
aaO S. 101; BÖNI, Diss. S. 93/94, BlSchK 1962 S. 141). Die sofortige
Bezahlung von Masseschulden kann sich daher auch dann aufdrängen, wenn
drohende Betreibungen abzuwenden sind.

Erwägung 3

    3.- Ist die sofortige Bezahlung von Masseverbindlichkeiten als zulässig
zu betrachten, so kann die Weisung des Sachwalters an die Rekurrentin,
die ab Stundungsdatum aufgelaufenen Sozialversicherungsbeiträge zu
bezahlen, nicht gesetzwidrig sein. Ob die Weisung unangemessen war, wie
die Rekurrentin geltend macht, kann das Bundesgericht nicht überprüfen,
da mit dem Rekurs im Sinne von Art. 19 SchKG Ermessensfehler nicht gerügt
werden können (BGE 97 II 126, 96 III 16, 93 III 119, 91 III 57). Der Rekurs
ist daher abzuweisen, womit das Gesuch um Gewährung der aufschiebenden
Wirkung gegenstandslos wird.

Entscheid:

    Demnach erkennt die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen.