Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IB 323



100 Ib 323

55. Urteil des Kassationshofes vom 1. Mai 1974 i.S. Jugendanwaltschaft des
Kantons Solothurn gegen X. Regeste

    1.  Art. 94 Abs. 1 StGB (Fassung gemäss BG vom 18. März 1971). Die
Entscheidung über die bedingte Entlassung aus der Erziehungsanstalt ist
eine Verfügung der Vollzugsbehörde und kein Akt des Strafrichters (Erw. 1).

    2.  Art. 103 lit. a OG. Die kantonale Jugendanwaltschaft ist zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen eine Verfügung der kantonalen
Strafvollzugsbehörde nicht berechtigt (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Die am 19. Juli 1956 geborene X. wurde am 30. Juni 1971 vom
Jugendgericht Solothurn-Lebern des fortgesetzten Diebstahls und der
Widerhandlung gegen Art. 27 Abs. 1 SVG schuldig erklärt und in Anwendung
von Art. 91 Ziff. 1 StGB in eine Erziehungsanstalt für Jugendliche
eingewiesen.

    B.- Am 31. Oktober 1973 stellte X. das Gesuch um bedingte Entlassung
aus der Erziehungsmassnahme. Die Jugendanwaltschaft des Kantons Solothurn
beantragte die Abweisung des Gesuches.

    Das Jugendgericht Solothurn-Lebern entliess die Gesuchstellerin am 19.
Dezember 1973 mit sofortiger Wirkung aus der Erziehungsanstalt, setzte
die Probezeit auf zwei Jahre an und errichtete eine Schutzaufsicht.

    Auf Berufung der Jugendanwaltschaft hin bestätigte die
Jugendgerichtskammer des Obergerichts des Kantons Solothurn am 11. Februar
1974 dieses Erkenntnis.

    C.- Die Jugendanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
die bedingte Entlassung aufzuheben.

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wurde auch als Verwaltungsgerichtsbeschwerde
in Vernehmlassung geschickt. Der Vormund der X. beantragt
Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde und Nichteintreten auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement
beantragt, auf die Beschwerde nicht einzutreten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die bedingte Entlassung aus der Erziehungsanstalt wird von der
"vollziehenden", nicht von der "urteilenden" Behörde verfügt, wie sich
schon aus dem Wortlaut des Art. 94 Abs. 1 StGB ergibt (AS 1971, S. 794
in Verbindung mit AS 1973, S. 1840). Nicht anders verhielt es sich
übrigens vor der Partialrevision dieser Bestimmung. Die Entlassung aus
Freiheitsstrafe und aus Massnahmen ist nach Bundesrecht eine Verfügung
des Strafvollzuges, kein Akt der Strafverfolgung oder des Strafrichters
(vgl. z.B. Art. 38, 42-45 StGB; vgl. auch BGE 99 Ib 348 ff). Die
Entscheidung der Jugendgerichtskammer des Obergerichtes ist daher eine
Verfügung der Vollzugsbehörden, nicht ein Urteil im Sinne von Art. 268
Ziff. 1 BStP. Auf die Beschwerde kann somit nicht eingetreten werden,
soweit sie sich als Nichtigkeitsbeschwerde hinstellt.

Erwägung 2

    2.- Gegen letztinstanzliche kantonale Verfügungen des
Strafvollzuges ist grundsätzlich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gegeben (Art. 98 lit. g OG). Da den Parteien aus der unrichtigen
Rechtsmittelbelehrung keine Nachteile erwachsen dürfen (Art. 107
Abs. 3 OG) und die Eingabe im vorliegenden Fall den Formerfordernissen
einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde entspricht, ist sie als solche
entgegenzunehmen.

    Der Jugendanwaltschaft fehlt indessen die Legitimation zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesrecht verleiht den kantonalen
Behörden, die sich von Amtes wegen mit dem Strafvollzug befassen, kein
besonderes Beschwerderecht. Die Jugendanwaltschaft kann sich daher
nicht auf Art. 103 lit. b und c OG berufen. Als kantonales Organ der
Jugendstrafrechtspflege hat sie weder an der Einweisung noch an der
bedingten Entlassung eines straffällig gewordenen Jugendlichen ein
eigenes Interesse. Durch die bedingte Entlassung wurde sie weder in
gleicher oder ähnlicher Weise wie eine Privatperson betroffen noch
hat sie ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der Verfügung,
wie dies Art. 103 lit. a OG voraussetzen würde (BGE 92 I 63, 95 I 53
Erw. 1, 97 I 607). Mangels Legitimation kann daher auf die Beschwerde
nicht eingetreten werden.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.