Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IA 386



100 Ia 386

55. Urteil vom 11. Dezember 1974 i.S. Lechleiter und Leiser gegen
Kantonsrat des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 85 lit. a OG, Art. 4 BV; Ungültigerklärung einer kantonalen
Volksinitiative wegen Verletzung einer Formvorschrift.

    1.  Ein gesetzliches Formerfordernis, wonach auf jedem
Unterschriftenbogen die Namen und Wohnadressen der Mitglieder des
Initiativkomitees anzugeben sind, verstösst nicht gegen Art. 4 BV (E. 2
a, b).

    2.  Verletzt eine Behörde den Art. 4 BV, wenn sie eine diesem
Formerfordernis nicht entsprechende Initiative für ungültig erklärt,
nachdem sie den gleichen Formmangel gegenüber den gleichen Initianten bei
einem früheren Volksbegehren irrtümlich nicht beanstandet hat? (E. 2 c).

Sachverhalt

                      Aus dem Sachverhalt:

    Nach § 13 Abs. 1 Ziff. 4 des zürcherischen Gesetzes über
das Vorschlagsrecht des Volkes vom 1. Juni 1969 (GVV) muss jeder
Unterschriftenbogen die Namen und genauen Adressen der Mitglieder
des Initiativkomitees enthalten. Unterschriftenbogen, welche diesen
Anforderungen nicht entsprechen, sind ungültig (§ 13 Abs. 2 GVV).

    Am 21. März 1974 reichte die Partei der Arbeit (PdA) des Kantons
Zürich bzw. ein aus fünf Mitgliedern ihres Parteivorstandes bestehendes
Initiativkomitee bei der Zürcher Staatskanzlei eine Volksinitiative
"für ein Gesetz über einen Steuer rabatt zum Ausgleich der kalten
Steuerprogression" ein. Die Unterschriftenbogen enthielten eine
Rückzugsklausel mit folgendem Wortlaut:

    "Die Unterzeichner der Initiative ermächtigen die nachfolgenden
Mitglieder des Parteivorstandes der Partei der Arbeit des Kantons Zürich
als Initiativkomitee: Jakob Lechleiter, Sekretär der PdA als Vorsitzenden,
Konrad Mayer, Hans Zogg, Hermann Leiser, Otto Oeschger, alle in Zürich,
Zweierstrasse 123, 8036 Zürich, die Initiative zu Gunsten eines allfälligen
Gegenvorschlages des Kantonsrates zurückzuziehen." Der Kantonsrat erklärte
in seiner Sitzung vom 1. Juli 1974 mit 88 von 108 Stimmen, d.h. mit der
erforderlichen Zweidrittelsmehrheit, das Volksbegehren für ungültig, weil
auf den Unterschriftenbogen für alle Mitglieder des Initiativkomitees
statt der einzelnen Wohnadressen nur eine Adresse und zwar diejenige des
Parteisekretariats der PdA angegeben sei, was den Anforderungen des §
13 Abs. 1 Ziff. 4 GVV nicht genüge.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung des politischen
Stimmrechts sowie des Art. 4 BV beantragen zwei Mitglieder des
Initiativkomitees, Jakob Lechleiter und Hermann Leiser, es sei der
Beschluss des Kantonsrates vom 1. Juli 1974 aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wurde das Volksbegehren zu Unrecht ungültig erklärt, so sind
die Beschwerdeführer in ihrem Initiativrecht beeinträchtigt. Zu den
politischen Rechten, deren Verletzung gestützt auf Art. 85 lit. a OG
gerügt werden kann, gehört auch das Initiativrecht (BGE 100 Ia 380,
E. 1; 97 I 895, 94 I 124). Die Beschwerdeführer sind demnach befugt,
den kantonsrätlichen Entscheid mit einer Stimmrechtsbeschwerde anzufechten.

Erwägung 2

    2.- Nach Ansicht des Kantonsrates verstösst die Angabe der Adresse
des Parteisekretariats der PdA als gemeinsame Adresse der fünf Mitglieder
des Initiativkomitees deshalb gegen das zürcherische Gesetz über das
Vorschlagsrecht des Volkes (GVV), weil eine solche Sammeladresse nicht
der in § 13 Abs. 1 Ziff. 4 GVV vorgesehenen, für die Gültigkeit eines
Unterschriftenbogens erforderlichen "genauen Adresse" entspreche, mit
welchem Ausdruck nur die vollständige Privatadresse, d.h. die Wohnadresse,
gemeint sein könne. Ob diese Auslegung des Gesetzes richtig ist, kann
das Bundesgericht frei überprüfen, denn bei Beschwerden gemäss Art. 85
lit. a OG steht dem Bundesgericht hinsichtlich der Auslegung kantonaler
Vorschriften, welche die angeblich verletzten politischen Rechte nach
Inhalt und Umfang näher normieren oder mit ihnen in engem Zusammenhang
stehen, im vorliegenden Fall der Normen betreffend die Gültigkeit einer
Volksinitiative, grundsätzlich freie Prüfung zu (BGE 99 Ia 55, 181,
520, 731).

    a) § 13 Abs. 1 Ziff. 4 GVV bestimmt, dass jeder Unterschriftenbogen
die Namen und genauen Adressen der Mitglieder des Initiativkomitees
enthalten muss. Gemäss § 14 Abs. 1 GVV hat der Stimmberechtigte den
Unterschriftenbogen eigenhändig zu unterzeichnen (Name und Vorname) sowie
darauf das Geburtsdatum und die genaue Adresse (Strasse und Hausnummer)
anzugeben.

    Dass die "genaue Adresse" im Sinne des § 14 Abs. 1 GVV die
Wohnadresse des Stimmberechtigten sein muss, ist klar, denn nur so kann
kontrolliert werden, ob der Unterzeichner in der politischen Gemeinde,
die auf dem Unterschriftenbogen angegeben ist, stimmberechtigt ist
(§ 13 Abs. 1 Ziff. 3, § 15 Abs. 3 GVV). Ob für die Mitglieder des
Initiativkomitees ebenfalls die Angabe der Wohnadresse vorgeschrieben
ist, geht aus dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 Ziff. 4 GVV nicht klar
hervor. Es ist auffallend, dass in § 14 für die Stimmberechtigten die
Angabe der Strasse und Hausnummer verlangt wird, nicht aber in § 13 für
die Mitglieder des Initiativkomitees. Auf Grund der systematischen sowie
der teleologischen Auslegung des Gesetzes darf jedoch angenommen werden,
dass auch bei den Komiteemitgliedern die Wohnadresse anzugeben ist. Nach §
12 Abs. 3 GVV müssen die Mitglieder des Initiativkomitees im Kanton Zürich
stimmberechtigt sein, was sich nur dann auf einfache Weise feststellen
lässt, wenn die Wohnadresse angegeben wird. Falls eine Initiative
von einer bekannten Gruppe oder Partei ausgeht, mag die Überlegung der
Beschwerdeführer zutreffen, dass der die Initiative unterzeichnende Bürger
ebenso gut oder sogar besser erkennt, wer hinter dem Volksbegehren steht,
wenn die Adresse des Sekretariats der Gruppe oder Partei angegeben wird und
die Mitglieder des Initiativkomitees als Angehörige der Gruppe oder Partei
bezeichnet sind, als wenn deren Wohnadresse angegeben wird. Das Gesetz
gilt aber nicht nur für Volksbegehren, die von bekannten Gruppen oder
Parteien ausgehen. Deshalb können die Mitglieder eines Initiativkomitees
ganz allgemein nur dann mit der für die Orientierung des Bürgers nötigen
Klarheit identifiziert werden, wenn die Wohnadresse angegeben wird. Auch
von daher gesehen erscheint demnach die Auslegung des Gesetzes durch den
Kantonsrat als zutreffend.

    b) Ist unter der "genauen Adresse" im Sinne der erwähnten
Bestimmung die Wohnadresse zu verstehen, so haben die fünf Mitglieder
des Initiativkomitees mit der Angabe der blossen Sammeladresse dem
Formerfordernis des § 13 Abs. 1 Ziff. 4 GVV nicht entsprochen, was an sich
nach dem klaren Wortlaut von § 13 Abs. 2 GVV die Ungültigkeit sämtlicher
Unterschriftenbogen und damit der Initiative zur Folge hätte. Dass
das Gesetz an einen solchen Mangel die Folge der Ungültigkeit knüpft,
verstösst nicht gegen die Verfassung. Für die Ausübung des Initiativrechts
sind gewisse Formvorschriften unerlässlich. Ein vom Gesetz aufgestelltes
Formerfordernis ist erst dann mit Art. 4 BV unvereinbar, wenn es sich durch
kein schutzwürdiges Interesse rechtfertigen lässt und die Durchsetzung
des materiellen Rechts ohne sachlich vertretbaren Grund erschwert (BGE 96
I 318). Dies ist nicht der Fall bei einer Bestimmung, welche die genaue
Bezeichnung der das Initiativkomitee bildenden Personen in der Weise
verlangt, dass sie Namen und Wohnadresse anzugeben haben. Eine solche
Formvorschrift ist, wie ausgeführt, durchaus sinnvoll und kann ohne die
geringsten Schwierigkeiten erfüllt werden.

    c) Nach dem Gesagten wäre der die Initiative für ungültig
erklärende Beschluss des Kantonsrates nicht zu beanstanden, wenn
die Initianten zum ersten Mal seit Inkrafttreten des GVV vom 1. Juli
1969 ein solches mit einer mangelhaften Rückzugsklausel versehenes
Volksbegehren eingereicht hätten. Entscheidend ist nun aber, dass der
Kantonsrat die gleiche Rückzugsklausel, die heute streitig ist, im Jahre
1972 bei einem Volksbegehren des an sich gleichen Initiativkomitees
(Initiativkomitee war beide Male der Parteivorstand der PdA, doch
haben dessen Mitglieder zum Teil gewechselt) nicht als Verstoss gegen
das GVV betrachtet hatte. Dadurch, dass der Kantonsrat beim ersten
Initiativbegehren auf Grund der gleichen gesetzlichen Grundlage die Angabe
der Sammeladresse nicht beanstandete, bestärkte er die Mitglieder des
Initiativkomitees in ihrer Annahme, die gewählte Rückzugsklausel genüge
den Formvorschriften. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts
ergibt sich unmittelbar aus Art. 4 BV ein Anspruch des Bürgers auf Schutz
des berechtigten Vertrauens auf behördliche Zusicherungen und sonstiges,
bestimmte Erwartungen begründendes Verhalten der Behörden (BGE 97 I 652,
94 I 521). Freilich bedeutet das nicht, dass eine Behörde, die einen dem
richtig verstandenen Sinn der anzuwendenden Rechtssätze widersprechenden
Entscheid fällt, in der Regel an diesen gebunden wäre und den Irrtum bei
der nächsten Gelegenheit nicht berichtigen dürfte (vgl. BGE 97 I 653). Im
vorliegenden Fall ist jedoch zu beachten, dass das Initiativkomitee die
Unrichtigkeit des kantonsrätlichen Entscheids in Anbetracht der unter
lit. a erwähnten Unklarheit des Textes von § 13 Abs. 1 Ziff. 4 GVV auch
bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit nicht erkennen musste; umso grössere
Bedeutung hat es, dass der Kantonsrat früher das Vorgehen der Initianten
sanktionierte. In diesem Zusammenhang fällt ferner in Betracht, dass
sich der Mangel auf eine Formvorschrift von relativ geringer Tragweite
bezieht, nicht etwa auf die materielle Zulässigkeit des Volksbegehrens,
bei deren Fehlen die gesetzliche Ungültigkeitsfolge auf jeden Fall dem
Vertrauensschutz der Initianten vorgehen müsste. Schliesslich steht ein
gewichtiges öffentliches Interesse auf dem Spiel, geht es doch darum,
ob ein Volksbegehren, welches über 5000 Unterschriften auf sich vereinigt
hat, gültig ist oder nicht. Aus all diesen Gründen erscheint der Entscheid
des Kantonsrates, mit dem er die Initiative als ungültig erklärte, vor
Art. 4 BV nicht haltbar. Das führt zur Gutheissung der Beschwerde und
zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführer beanstanden ferner, dass der Kantonsrat ihre
Initiative für ungültig erklärt habe, ohne das Initiativkomitee vorher
anzuhören. Das kantonale Recht enthält keine Vorschrift, wonach den
Initianten Gelegenheit zu geben wäre, sich vor dem Entscheid zu äussern,
wenn eine Ungültigerklärung in Aussicht genommen ist. Es kann sich deshalb
nur fragen, ob die Initianten einen solchen Anspruch unmittelbar auf Grund
des Art. 4 BV gehabt hätten. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
muss dem Bürger - abgesehen von bestimmten Ausnahmefällen (BGE 99 Ia 24
f.) - im Verwaltungsverfahren Gelegenheit gegeben werden, sich vor dem
Entscheid zu äussern (BGE 99 Ia 46 mit Hinweisen, vgl. auch BGE 100 Ib
1). Im Gesetzgebungsverfahren besteht kein solcher Anspruch (BGE 90 I 338
E. 2). Der angefochtene Entscheid ging von der gesetzgebenden Behörde aus,
war aber nicht ein Akt der Rechtssetzung. Es mag bei dieser Sachlage
fraglich sein, ob die Behörde den Initianten hätte Gelegenheit geben
müssen, sich zur Frage der allfälligen Ungültigkeit mangels genügender
Adressangabe zu äussern, doch kann die Frage offen bleiben, da die
Beschwerde ohnehin gutzuheissen ist.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Kantonsrates
des Kantons Zürich vom 1. Juli 1974 aufgeho ben.