Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IA 362



100 Ia 362

52. Auszug aus dem Urteil vom 18. September 1974 i.S. Steimen und Imfeld
gegen Landsgemeinde Obwalden. Regeste

    Art. 85 lit. a OG. Abstimmungsverfahren an Landsgemeinden.

    Ermittlung des Stimmenverhältnisses durch Handmehr und Abschätzen.

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Die Beschwerdeführer fechten die Feststellung der Ja- und
Neinstimmen bei der fraglichen Landsgemeindeabstimmung an, die nicht den
Grundsätzen und Anforderungen entspreche, welche die Rechtsprechung an
das Abstimmungsverfahren stelle. Zwar behaupten sie nicht eigentlich, es
seien Unregelmässigkeiten vorgekommen - etwa, die Stimmenzähler hätten ihre
Meinung wider besseres Wissen abgegeben. Aber sie halten die Organisation
des Zählvorganges für in sich fehlerhaft und ungenügend und bestreiten,
dass das Resultat richtig ermittelt worden sei.

    a) An den Landsgemeinden gilt grundsätzlich, dass Abstimmungen offen
durch Handmehr erfolgen (GIACOMETTI, Staatsrecht der schweizerischen
Kantone S. 254 f.; Nidwalden, Gesetz über die Organisation und das
Verfahren der gesetzgebenden und vollziehenden kantonalen Gewalten vom
30. April 1967, Art. 19 Abs. 1; Glarus, Art. 34 KV; Appenzell A.Rh., Art.
45 Abs. 4 KV; Appenzell I.Rh., Verordnung betr. die Landsgemeinde und
die Gemeindeversammlungen vom 21. November 1924, Art. 16).

    Die Ermittlung des Stimmenverhältnisses geschieht in erster Linie durch
Abschätzen, wie das Art. 15 der Landsgemeindeverordnung von 1895 vorsieht
(GIACOMETTI, aaO S. 256). Im Kanton Glarus ist dies die einzige Art der
Ermittlung des Stimmverhältnisses; die Abschätzung erfolgt dort durch den
Vorsitzenden, in zweifelhaften Fällen unter Beizug von vier Mitgliedern
des Regierungsrates; der Entscheid ist endgültig (Art. 34 Abs. 3 und 4
KV; STAUFFACHER, Die Versammlungsdemokratie im Kanton Glarus, Diss. 1962,
S. 311 f.). In gleicher Weise kennt der Kanton Appenzell A.Rh. (Art. 45
KV) nur die Abschätzung durch den Geschäftsführer, eventuell mit Beizug
der Regierungsmitglieder und von Mitgliedern des Kantonsrates. Die übrigen
Landsgemeindekantone sehen unter bestimmten Voraussetzungen die Auszählung
vor, so neben Obwalden (Art. 16 LGV 1895, Art. 3 LGV 1918) auch Nidwalden
nach drittem ergebnislosem Handmehr (Art. 20 Organisationsgesetz) und
Appenzell I.Rh., sofern die Mehrheit durch Abschätzung nicht festgestellt
werden kann (Art. 16 Abs. 2 der Landsgemeindeverordnung).

    b) Die an den Landsgemeinden vorgeschriebene Art und Weise der
Ermittlung der Abstimmungsergebnisse (Handmehr und Abschätzung),
die durch die Natur der gegebenen Verhältnisse nahegelegt sind,
gewähren offensichtlich weniger grosse Garantien für eine unverfälschte
Ermittlung des Volkswillens als z.B. eine geheime Urnenabstimmung. Die
Beschwerdeführer fechten aber die im Kanton Obwalden getroffene Regelung
nicht als verfassungswidrig an. Soweit es sich um die Abstimmung mit
Handmehr handelt, wäre das auch nicht möglich, da diese Verfahrensart durch
die Kantonsverfassung selbst vorgeschrieben ist und die Vereinbarkeit der
kantonalen Verfassungsbestimmungen mit dem Bundesrecht vom Bundesgericht
nicht überprüft werden kann, wenn die Bundesversammlung der Verfassung die
Gewährleistung erteilt hat (BGE 89 I 393 ff. E. 3). In ihrem Rechtsbegehren
verlangen die Beschwerdeführer wohl, es sei eventuell eine Urnenabstimmung
anzuordnen, aber sie anerkennen in der Begründung, dass - solange die
Verfassung von der Bundesversammlung gewährleistet ist - dem Handmehr
an der Landsgemeinde als rechtskonformer Willensäusserung das Wort
geredet sei.

    c) Auch die Feststellung des Stimmenverhältnisses durch Abschätzung
rügen sie zwar als ungeeignet, doch nicht verfassungswidrig; sie behaupten
lediglich, diese habe an der Landsgemeinde vom 28. April 1974 zu einer
unrichtigen Ermittlung des Stimmenverhältnisses geführt. Es besteht auch
kein zwingender Anlass, die Abschätzung als mit Bundesrecht unvereinbar zu
erklären; sie ist an sich nicht ungeeignet, zur Ermittlung des richtigen
Verhältnisses zwischen Ja- und Neinstimmen zu führen. In den meisten
Fällen wird sich durch Schätzung ohne weiteres das Stimmenverhältnis
wenn auch nicht zahlenmässig genau, so doch eindeutig genug feststellen
lassen. In den Zweifelsfällen ist allerdings eine grosse Sorgfalt der das
Mehr feststellenden Behörde erforderlich, damit es nicht zu Fehlschätzungen
kommt, besonders da in keinem Landsgemeindekanton jeder Bürger von sich aus
die Durchführung der Zählung verlangen oder erzwingen kann. Die Anordnung
der Zählung - auch in jenen Kantonen, die eine solche kennen - setzt immer
voraus, dass die feststellende Behörde Zweifel am Abstimmungsausgang hat;
das trifft auch in Obwalden zu, wo bereits nach dem ersten Abstimmungsgang
die Abzählung verlangt werden kann (Art. 3 Abs. 2 LGV 1918). Sie setzt
voraus, dass die Behörde nicht schon im ersten Abstimmungsgang aufgrund
ihrer Schätzung die Vorlage als angenommen oder verworfen erklärt;
ausserdem ist erst noch eine Abstimmung darüber erforderlich, ob gezählt
werden soll oder nicht. Immerhin trifft gerade das obwaldnerische Recht
Massnahmen, die eine grosse Gewissheit für die richtige Feststellung des
Abstimmungsresultates schaffen, verlangt es doch, dass die Stimmenzähler
eine gute Übersicht über den Landsgemeindeplatz gewinnen können und eine
Dreiviertelsmehrheit der Stimmenzähler erreicht wird (Art. 16 LGV 1895
und Art. 2 LGV 1918).

    d) Da die Beschwerdeführer den Abstimmungsmodus nicht angefochten
haben, haben sie den Nachweis zu leisten, dass die Abstimmungsermittlung
an einem Mangel leidet. Sie behaupten aber nicht, dass der Leiter der
Landsgemeinde die fragliche Vorlage als angenommen erklärte, obwohl
die Dreiviertelsmehrheit unter den Stimmenzählern nicht erreicht war.
Dagegen behaupten sie, dass die Schätzung offenbar nicht richtig erfolgt
sei. Sie berufen sich dafür auf zahlreiche Zeugen sowie eventuell auf
Aufnahmen, die für das Fernsehen gemacht wurden, und auf die schriftlichen
Erklärungen zahlreicher Bürger.

    Den Beweisanträgen der Beschwerdeführer ist nicht stattzugeben, weil
sie untauglich sind, um ihre Behauptungen zu erhärten. Die angerufenen
Zeugen können nur ihre subjektive Auffassung über das Stimmenverhältnis
bekanntgeben. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass unbeteiligte Zuschauer
an grossen Veranstaltungen sich häufig über das Stimmenverhältnis
bei offenen Abstimmungen täuschen. Die Teilnehmer selbst unterliegen
häufig ebenfalls Täuschungen, weil sie eben - vor allem bei grossen
Versammlungen - nur die nächste Umgebung einigermassen sicher überblicken
können. So wären ihre Aussagen selber mit einem grossen Unsicherheitsfaktor
belastet. Zweifellos könnte der Regierungsrat ebenso viele Zeugen nennen,
die dafür einträten, dass die Vorlage angenommen worden sei. Das Protokoll
der Landsgemeinde verzeichnet jedenfalls Beifall nach Bekanntgabe des
Abstimmungsergebnisses. Es darf davon ausgegangen werden, dass die
Beifallspendenden ihrerseits überzeugt waren, die Vorlage sei angenommen
worden. Auch allfälliges Filmmaterial des Fernsehens wäre nicht geeignet,
ein klares Bild über die Mehrheitsverhältnisse zu schaffen. Selbst wenn
der Unterschied zwischen Ja- und Neinstimmen nur sehr knapp gewesen
sein sollte, ergibt sich daraus kein Anspruch auf Nachzählung, wenn
nicht dargetan ist, dass beim Zählen Fehler vorgekommen sind (BGE 98 Ia
85). Unter diesen Umständen ist auf die tatbeständlichen Feststellungen
des Regierungsrates über die Aufstellung der Stimmenzähler und ihre
Sichtmöglichkeiten abzustellen. Die Beschwerdeführer behaupten nicht,
dass bei der Abschätzung Unregelmässigkeiten vorgekommen seien, die
Stimmenzähler etwa beeinflusst worden wären oder sie sonst gegen ihre
Überzeugung Erklärungen abgegeben hätten (vgl. PICENONI, Die Kassation
von Volkswahlen und Volksabstimmungen, Diss. 1945 S. 106 f.). Es darf
angenommen werden, dass sie einen weitgehenden Überblick über das ganze
Landsgemeindefeld hatten. Der Umstand, dass eine Dreiviertelsmehrheit der
Stimmenzähler erforderlich war, gibt einen hohen Grad von Gewissheit dafür,
dass die Vorlage zu Recht als angenommen erklärt worden ist und dass die
Beschwerdeführer in ihrem Stimmrecht nicht verletzt worden sind.