Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IA 357



100 Ia 357

51. Urteil vom 30. Oktober 1974 i.S. Dr. X. gegen Anwaltskammer des
Kantons Luzern Regeste

    Art. 4 und 31 BV; Disziplinarrecht des Anwaltes.

    Disziplinarmassnahmen haben dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit
zu entsprechen;

    Missachtung dieses Grundsatzes, wenn gegenüber einem Anwalt, der wegen
Urkundenfälschung zu vier Monaten Gefängnis unter Gewährung des bedingten
Strafvollzuges bei einer Probezeit von zwei Jahren verurteilt wurde,
allein auf Grund dieses Strafurteils die schwerste Disziplinarmassnahme der
dauernden Einstellung in der Berufsausübung angeordnet wird (E. 3 u. 4).

Sachverhalt

    A.- Frau C. beschwerte sich bei der Anwaltskammer des Kantons Luzern,
dass Dr. X., ihr Anwalt, den Empfang eines von ihr anfangs April 1970
ohne Quittung geleisteten Vorschusses von Fr. 500.-- bestreite. Dr.
X. machte geltend, bei den Fr. 500.-- habe es sich um die Rückerstattung
eines Darlehens gehandelt, das Frau A., seine Sekretärin, ihrer Freundin,
Frau C., gewährt habe. Wegen Abwesenheit der Sekretärin habe Frau C. den
Betrag ihm zur Weiterleitung an Frau A. übergeben, welchen Auftrag er
ausgeführt habe. Er legte ein von Frau A. unterschriebenes, vom 15. April
1970 datiertes Schriftstück ein, das seine Darstellung bestätigte. Frau
A. widerrief aber diese Bestätigung und erklärte, die von Dr. X. entworfene
Quittung habe sie erst nach dem 15. September 1970 unterschrieben. Von
Frau C. habe sie nie Geld bekommen, auch nicht über Dr. X.

    Auf Grund dieses Sachverhalts wurde Dr. X. am 30. November 1973 vom
Obergericht des Kantons Luzern wegen Urkundenfälschung und Anstiftung dazu
zu sechs Monaten Gefängnis, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von
zwei Jahren, verurteilt. Nachdem der Kassationshof des Bundesgerichts
eine hiergegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Dr. X. teilweise
gutgeheissen hatte, erklärte das Obergericht mit Urteil vom 1. April 1974
Dr. X. schuldig der Urkundenfälschung nach Art. 251 Ziff. 1 Abs. 1 und
2 StGB (Falschbeurkundung) und bestrafte ihn mit vier Monaten Gefängnis,
bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren. Auf eine erneute
Nichtigkeitsbeschwerde des Dr. X. trat der Kassationshof des Bundesgerichts
am 30. April 1974 nicht ein.

    B.- Nachdem das Urteil des Obergerichts vom 1. April 1974
rechtskräftig geworden war, nahm die Anwaltskammer das von Frau C. gegen
Dr. X. angestrengte Beschwerdeverfahren und das auf Grund desselben
von Amtes wegen angehobene Disziplinarverfahren gegen Dr. X. wieder
auf. Während der Beschwerde der Frau C. keine Folge gegeben wurde, stellte
die Anwaltskammer mit Disziplinarentscheid vom 9. Juli 1974 Dr. X. in
seiner Berufsausübung als Rechtsanwalt im Kanton Luzern dauernd ein.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt Dr. X. staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 4 und 31 BV. Die Beschwerdebegründung ergibt
sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.

    Die Anwaltskammer des Kantons Luzern beantragt Abweisung der
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer beanstandet, dass entgegen der Vorschrift
des § 22 lit. e der Luzerner Zivilprozessordnung (ZPO) Oberrichter
Dr. Hübscher sowohl bei der Beurteilung der Straffälle als auch beim
Disziplinarentscheid mitgewirkt habe.

    Nach § 22 lit. e ZPO darf ein Richter an der Verhandlung und
Beurteilung eines Rechtsfalles nicht teilnehmen "in Sachen, in
welchen er in einer untern Instanz bereits geurteilt hat oder in der
er als Sachverständiger tätig war". Dass Oberrichter Dr. Hübscher
sowohl die II. Strafkammer, die den Beschwerdeführer strafrechtlich
verurteilte, wie auch die Anwaltskammer, welche den Beschwerdeführer
disziplinarisch bestrafte, präsidiert hat, verstiess jedoch nicht gegen
diese Gesetzesbestimmung, denn die darin genannten Voraussetzungen für das
Vorliegen eines Ausstandsgrundes waren hier nicht gegeben. Obergericht
und Anwaltskammer stehen nämlich zueinander nicht in dem für einen
Ausstandsgrund gemäss § 22 lit. e ZPO erforderlichen Verhältnis der Über-
und Unterordnung; das Obergericht ist Rechtsmittelinstanz in Strafsachen,
die Anwaltskammer dagegen selbständige staatliche Aufsichtsbehörde über
die im Kanton Luzern praktizierenden Rechtsanwälte. Einer Mitwirkung
Oberrichter Dr. Hübschers in beiden Verfahren stand demnach keine
gesetzliche Vorschrift entgegen.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer beklagt sich über eine Verletzung der
Handels- und Gewerbefreiheit. Durch die gesetzliche Einführung
der Bewilligungspflicht und die Schaffung eines Aufsichts- und
Disziplinarrechts hat der Kanton Luzern zum Ausdruck gebracht, dass
die Handels- und Gewerbefreiheit im Bereich des Anwaltsberufs aus
polizeilichen Gründen den auch in andern Kantonen üblichen Beschränkungen
unterworfen sein soll (BGE 98 Ia 598). Ist es unter dem Gesichtspunkt
des Disziplinarrechts gerechtfertigt, dass dem Beschwerdeführer die
Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufs dauernd entzogen wurde, so
verstösst der angefochtene Entscheid auch nicht gegen Art. 31 BV.

Erwägung 3

    3.- a) Die entscheidende Frage ist demnach die, ob die ausgesprochene
Disziplinarmassnahme als solche zulässig war. Der Anwaltskammer steht
bei der Wahl der Massnahme ein gewisser Spielraum des Ermessens offen,
und das Bundesgericht kann nur eingreifen, wenn ihn die kantonale Behörde
überschritten hat.

    Der Beschwerdeführer rügt, dass sich die Anwaltskammer im
Disziplinarverfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf das
Strafurteil des Obergerichts des Kantons Luzern stützte. mit welchem
er wegen Urkundenfälschung nach Art. 251 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB zu
einer Gefängnisstrafe von vier Monaten unter Gewährung des bedingten
Strafvollzuges mit einer Probezeit von zwei Jahren verurteilt wurde. Dieses
Vorgehen ist indessen nicht zu beanstanden. Die Strafgerichte haben
das Verhalten des Dr. X. in jeder Hinsicht gründlich abgeklärt. Das
Strafurteil ist rechtskräftig, und wenn es die Anwaltskammer ihrem
Entscheid zugrundelegte, hat sie damit nicht gegen Art. 4 BV verstossen
(vgl. DUBACH, Das Disziplinarrecht der freien Berufe, ZSR 1951 S. 114 a;
GRISEL, Droit administratif suisse, S. 268). Der Beschwerdeführer tut
nicht dar, inwiefern es geradezu unhaltbar wäre, dass die Anwaltskammer
die vom Strafrichter beurteilten Tat- und Rechtsfragen gleich wie dieser
würdigte (vgl. BGE 71 I 469).

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die dauernde Einstellung
in der Berufsausübung als Rechtsanwalt stehe in keinem vernünftigen
Verhältnis zu der ihm zur Last gelegten Tat. Disziplinarmassnahmen
müssen dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entsprechen (IMBODEN,
Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl. Bd. 1 S. 221). Das
Luzerner Anwaltsgesetz vom 1. Dezember 1931 (AG) sieht folgende
Disziplinarmassnahmen vor: Verweis, Ordnungsbusse bis Fr. 500.-- (§
13 Abs. 2 AG), zeitlich begrenzte oder dauernde Einstellung in der
Berufsausübung (§ 15 Abs. 1 AG). Die Anwaltskammer hat die schwerste
Disziplinarmassnahme ausgefällt. Wie im Disziplinarrecht der Beamten
soll auch in jenem der Anwälte die strengste Massnahme, d.h. die
dauernde Einstellung in der Berufsausübung, ohne vorangehende Warnung
nur ausnahmsweise angeordnet werden, nämlich dann, wenn die Verfehlung
so schwerwiegend ist, dass sie eine Mentalität aufzeigt. die mit der
Eigenschaft eines Anwalts schlechthin unvereinbar ist (vgl. BGE 81 I 249).

    Dr. X. wurde wegen Urkundenfälschung zu einer bedingten Gefängnisstrafe
von vier Monaten verurteilt. Ob die "Quittung", welche Dr. X. mit
seiner Sekretärin zusammen erstellte, inhaltlich unwahr ist, konnte
im Strafverfahren nicht eindeutig abgeklärt werden. Im Zweifel nahm der
Strafrichter an, es sei bloss das Datum der Quittung gefälscht, und Dr. X.
habe diese Tat nur begangen, um sich im Disziplinarverfahren eine bessere
Stellung zu verschaffen. Die Verfehlung des Beschwerdeführers, der eine
besondere Vertrauensstellung hat und um die Strafbarkeit solcher Handlungen
bestens Bescheid weiss, kann nicht als Bagatelldelikt gelten, und der
Kassationshof des Bundesgerichts hat es denn auch abgelehnt, die Tat als
besonders leichten Fall gemäss Art. 251 Ziff. 3 StGB zu qualifizieren.
Trotzdem lässt sich nicht sagen, die Straftat weise für sich allein auf
derartige Charaktermängel hin, dass der Beschwerdeführer das Vertrauen, das
ein Anwalt haben muss, schlechthin nicht mehr verdiene. Es darf denn auch
nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Strafgericht dem Beschwerdeführer
den bedingten Strafvollzug mit der minimalen Probezeit von zwei Jahren
gewährte. Damit brachte es dem Beschwerdeführer das Vertrauen entgegen,
dass er sich durch eine blosse Warnungsstrafe von weiteren Verbrechen und
Vergehen abhalten lasse. Die Anwaltskammer hat das ihr zustehende Ermessen
klarerweise überschritten und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit
missachtet, indem sie allein aus dem Strafurteil den Schluss zog, der
Beschwerdeführer sei als Anwalt nicht mehr vertrauenswürdig, und - ohne
dass Dr. X. vorher je disziplinarisch bestraft worden wäre - die schwerste,
für die berufliche Existenz ausserordentlich einschneidende Massnahme
des dauernden Entzugs der Bewilligung zur Berufsausübung anordnete.

Erwägung 4

    4.- Das dauernde Verbot der Berufsausübung wäre vor der Verfassung
nur haltbar, wenn zu dem Strafurteil hinzu dem Beschwerdeführer weitere
Vorwürfe gemacht werden könnten. Darüber finden sich aber in den
Erwägungen des angefochtenen Entscheides keine Angaben. Es steht offen,
wie lange Dr. X. bereits als Anwalt praktiziert, ob er sich in dieser
Eigenschaft gewisse Verfehlungen zuschulden kommen liess, auch wenn sie
nicht zu disziplinarischer Ahndung Anlass gaben, ob er sich allenfalls
im Privatleben so aufgeführt hat, dass sein berufliches Ansehen darunter
erheblich litt.

    Da der angefochtene Entscheid dem Proportionalitätsprinzip
zuwiderläuft, ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen. Die
Anwaltskammer hat im Lichte der vorangehenden Erwägungen neu zu
entscheiden.

Erwägung 5

    5.- Wird die Beschwerde schon aus dem genannten Grunde gutgeheissen,
so braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob der angefochtene Entscheid
entsprechend der Behauptung des Beschwerdeführers auch gegen die
Rechtsgleichheit verstösst.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und der
Entscheid der Anwaltskammer des Kantons Luzern vom 9. Juli 1974 aufgehoben.