Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IA 1



100 Ia 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 23. Januar 1974 i.S. Lauper gegen Grossen
Rat des Kantons Basel-Stadt. Regeste

    Art. 87 OG, Letztinstanzlicher Endentscheid.

    Der Entscheid des Grossen Rats über die Aufhebung der parlamentarischen
Immunität ist ein letztinstanzlicher Endentscheid (Erw. 1).

    Bedingte parlamentarische Immunität.

    Die Ermächtigung zur Strafverfolgung ist Prozessvoraussetzung
(Erw. 2). In ihrer Erteilung liegt keine (unzulässige) Rückwirkung
(Erw. 3).

Sachverhalt

                      Aus dem Sachverhalt:

    A.- Alfred Lauper ist Mitglied des Grossen Rats des Kantons
Basel-Stadt. Er reichte am 4. Oktober 1973 eine Interpellation ein,
die sich auf die Psychiatrische Universitätsklinik Friedmatt bezog,
und in der er schwere Anschuldigungen gegen Angestellte erhob.

    Der Regierungsrat nahm am 2. November 1973 in einer schriftlichen
Antwort zu den vom Interpellanten aufgeworfenen Fragen einlässlich
Stellung. Er wies die Anschuldigungen in aller Form zuruck, wobei er
erklärte: "Der Vorwurf eines Machtmissbrauchs unter Zuhilfenahme von
Medikamenten empört die Mitarbeiter einer Klinik, die sich seit Jahren
intensiv und gewissenhaft mit der medikamentösen Behandlung seelisch
Kranker befasst haben, in höchstem Masse. Er sagt nichts anderes aus,
als dass die moderne, offene und freiheitlich geführte Psychiatrie eine
reine Fassade sei ... Wir bedauern ausserordentlich, dass bestqualifizierte
Mitarbeiter durch derartige Behauptungen beschuldigt und vorsätzlich in
ein schlechtes Licht gestellt werden. Der Interpellant weiss ganz genau,
dass auf diese Weise angeschuldigten Mitarbeitern keine Gelegenheit zu
einer öffentlichen Stellungnahme geboten wird. Derartige Anklagen sind
für alle Mitarbeiter ehrbeleidigend und wirken zudem schädigend auf
das mit den Kranken einzugehende Vertrauensverhältnis ein. Wir weisen
die unhaltbaren, offensichtlich auf Ressentiments beruhenden Vorwürfe
energisch zurück." Zu Punkt 7 der Interpellation führte der Regierungsrat
aus, es seien keinerlei gravierende Vorkommnisse abzuklären, weshalb es
sich erübrige, eine Untersuchungskommission einzusetzen.

    In der Sitzung des Grossen Rats vom 8. November 1973 hatte
Alfred Lauper Gelegenheit, sich zur Antwort des Regierungsrats zu
äussern. Der Ratspräsident kündigte ihm an, er werde die Aufhebung
der parlamentarischen Immunität beantragen, falls er Anschuldigungen
erheben sollte, die nach dem Rechtssinn des Volkes als üble Nachrede
oder Verleumdung zu qualifizieren seien. Lauper erklärte sich von der
Antwort der Regierung nicht befriedigt und behielt sich eine Strafklage
gegen Angestellte der Klinik Friedmatt vor. Auf Grund seiner weiteren
Äusserungen entzog ihm auf Antrag des Ratspräsidenten der Grosse Rat mit
89 gegen 4 Stimmen bei 21 Enthaltungen die parlamentarische Immunität
mit Bezug auf die Äusserungen im Zusammenhang mit der Interpellation
betreffend Psychiatrische Universitätsklinik.

    B.- Gegen diesen Beschluss des Grossen Rats vom 8.  November 1973 hat
Alfred Lauper gestützt auf Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde erhoben
mit dem Antrag auf Aufhebung. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich,
soweit nötig, aus den folgenden Erwägungen.

    C.- Der Grosse Rat lässt Abweisung der Beschwerde beantragen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4
BV ist gemäss Art. 87 OG erst gegen letztinstanzliche Endentscheide
zulässig, gegen letztinstanzliche Zwischenentscheide nur, wenn sie für den
Betroffenen einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge haben. Der
Beschluss des Grossen Rats kann mit keinem kantonalen Rechtsmittel
angefochten werden. Er ist letztinstanzlich. Es handelt sich um einen
Endentscheid. Es ist zwar nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass sich
Lauper noch in einem allfälligen künftigen Strafverfahren darauf berufen
könnte, wegen der parlamentarischen Immunität dürfe er strafrechtlich
nicht verfolgt werden (vgl. BGE 53 I 79/80). Ob ein solcher Einwand im
Strafprozess zu hören wäre, kann dahingestellt bleiben. Das Verfahren
vor dem Grossen Rat über die Aufhebung der parlamentarischen Immunität
ist ein in sich geschlossenes, selbständiges Verfahren, nicht bloss ein
Vorstadium eines Strafverfahrens. Das Verfahren vor dem Grossen Rat
und der Strafprozess sind ihrem Gegenstand nach derart verschieden, dass
es nicht angeht, sie als eine Einheit zu betrachten, innerhalb welcher
der Entscheid des Grossen Rats über die Aufhebung der Immunität einen
blossen Zwischenentscheid bilden würde (BGE 94 I 369/70). Der angefochtene
Beschluss ist demnach letztinstanzlicher Endentscheid, und Lauper ist
nach Art. 88 OG legitimiert, ihn anzufechten, da damit die Möglichkeit
geschaffen wird, gegen ihn ein Strafverfahren durchzuführen, wodurch er
in rechtlich geschützten Interessen betroffen wird. Auf die Beschwerde
ist somit einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die parlamentarische Immunität, welche die meisten schweizerischen
Kantone kennen, kann bedeuten, dass ein Parlamentarier für seine
Äusserungen strafrechtlich, zivilrechtlich oder disziplinarisch nicht
zur Verantwortung gezogen werden kann. Lauper beschwert sich nur darüber,
dass durch den Beschluss des Grossen Rats die Möglichkeit strafrechtlicher
Verfolgung eröffnet wurde. Nach Art. 366 Abs. 2 lit. a StGB bleiben die
Kantone berechtigt, Bestimmungen zu erlassen, wonach die strafrechtliche
Verantwortlichkeit der Mitglieder ihrer gesetzgebenden Behörden wegen
Äusserungen in den Verhandlungen dieser Behörden aufgehoben oder beschränkt
wird. Die Kantone haben von dieser Befugnis in unterschiedlicher Weise
Gebrauch gemacht. Zum Teil ist die parlamentarische Immunität in der
Kantonsverfassung verankert, zum Teil in blossen Gesetzen (z.B. Gesetz
über die Verantwortlichkeit der Behörden und Beamten, Strafprozessordnung,
Geschäftsordnung des kantonalen Parlaments). Auch der Umfang der Immunität
ist in den Kantonen verschieden (vgl. GIACOMETTI, Das Staatsrecht der
schweizerischen Kantone, S. 318 ff.; REGULA BAUR, Die parlamentarische
Immunität in Bund und Kantonen der schweizerischen Eidgenossenschaft,
Diss. Zürich 1963, S. XII ff., S. 35 ff.). Nach einzelnen Vorschriften
können die Mitglieder der gesetzgebenden Behörde für ihre Äusserungen
im Parlament strafrechtlich überhaupt nicht verantwortlich gemacht
werden (absolute und unbedingte Immunität). Nach andern Regeln kann das
Parlament im Einzelfall durch Beschluss die Immunität eines Mitglieds
aufheben (bedingte Immunität). Vereinzelt sind Ehrverletzungen von
der Immunität ausgenommen (relative Immunität). Die Immunität ist ein
Institut des Staatsrechts, das eine möglichst ungehinderte Ausübung
der parlamentarischen Tätigkeit gewährleisten soll (GIACOMETTI, aaO
S. 318). Bestimmt das kantonale Recht, dass ein Mitglied des Parlaments für
seine Änsserungen in den Ratsverhandlungen strafrechtlich überhaupt nicht
zur Verantwortung gezogen werden kann, wird damit nach herrschender Lehre
ein persönlicher Strafausschliessungsgrund geschaffen. Das Ratsmitglied
bleibt seiner besondern Stellung wegen straflos, auch wenn seine Tat
die Merkmale eines Delikts aufweist. Ist die Immunität dagegen in dem
Sinn eine bedingte, dass sie das Parlament im Einzelfall aufheben und
damit die Ermächtigung zur Strafverfolgung geben kann, so ist die Tat des
Abgeordneten nicht straflos. Wird die Immunität nicht aufgehoben, liegt nur
eine prozessuale Schranke für die Strafverfolgung vor, es fehlt an einer
Prozessvoraussetzung (HAFTER, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil 2.A. S.
191 ff.; SCHWANDER, Das schweizerische Strafgesetzbuch, 2.A. S. 111
und 231; SCHULTZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts,
S. 92). Im Kanton Basel-Stadt ist die parlamentarische Immunität im Gesetz
betreffend die Geschäftsordnung des Grossen Rats vom 28. April 1938
(GGR) verankert. Der § 10, der sich darauf bezieht, wurde durch Gesetz
vom 28. März 1968 revidiert und hat nun folgenden Wortlaut:

    "Verantwortlichkeit für Äusserungen. Die Mitglieder des Grossen
Rates und des Regierungsrates sind für ihre mündlichen und schriftlichen
Äusserungen bei den Beratungen sowohl im Ratsplenum als auch in den
Ratskommissionen nur dem Grossen Rat verantwortlich."

    Die Wendung, die Parlamentarier seien "nur dem Grossen Rat
verantwortlich" findet sich in gleicher oder ähnlicher Form in
Erlassen anderer Kantone (Bern, Art. 30 Abs. 3 KV; Luzern, § 58 Abs. 1
Geschäftsordnung für den Grossen Rat; Uri, § 45 Reglement für den Landrat;
Nidwalden, § 6 Landratsverordnung; St. Gallen, Art. 56 Abs. 2 KV; Aargau,
§ 5 Grossratsreglement; Wallis, Art. 48 Abs. 2 KV; Neuenburg, Art. 28
KV). Welche praktischen Auswirkungen die Verantwortlichkeit dem Grossen
Rat gegenüber hat, braucht nicht näher geprüft zu werden; offenbar ist
an Ordnungsruf und Ausweisung aus dem Sitzungssaal zu denken (§ 20 GGR).

    Für den Entscheid über die staatsrechtliche Beschwerde ist wesentlich,
welche Tragweite § 10 für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der
Mitglieder des Grossen Rats hat. Bestünde die Vorschrift für sich allein,
so würde sie bedeuten, dass die Ratsmitglieder strafrechtlich überhaupt
nicht verantwortlich gemacht werden können. Wenn sie nur dem Grossen Rat
gegenüber verantwortlich sind, ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit
ausgeschlossen.

Erwägung 3

    3.- a) Der § 10 findet sich in Abschnitt I des GGR. § 16 des Gesetzes
lautet:

    "Abweichungen von der Geschäftsordnung. Abweichungen von dieser
Geschäftsordnung mit Ausnahme der in der Verfassung und der in Abschnitt
VI und VII enthaltenen Vorschriften können vom Grossen Rate für einzelne
Fälle mit zwei Dritteln der Stimmen beschlossen werden."

    Der Grosse Rat stützte sich auf diese Vorschrift. Er beschloss
mit der erforderlichen Zweidrittelsmehrheit, von § 10 des Gesetzes
abzuweichen und dem Beschwerdeführer die parlamentarische Immunität zu
entziehen. Die Regel des § 16 GGR mag etwas ungewöhnlich scheinen. Sie
gibt dem Grossen Rat die Kompetenz, im Einzelfall von einer ganzen
Reihe von Bestimmungen eines Gesetzes abzuweichen, das dem Referendum
unterstand. Auf die damit zusammenhängenden Fragen braucht indes nicht
eingegangen zu werden, da der Beschwerdeführer nach dieser Richtung hin
keine Rüge erhebt. Es kann deshalb auch offen bleiben, ob dem Grossen Rat
mit § 16 GGR gesetzgeberische Befugnisse delegiert werden und wieweit
das bejahendenfalls zulässig wäre (vgl. BGE 99 I a 541 E. 4; 74 I 114,
88 I 154).

    b) Es ist einzig zu prüfen, ob der Grosse Rat das GGR willkürlich
angewendet hat. Das trifft nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
zu, wenn der angefochtene Beschluss eine Norm oder einen klaren und
unumstrittenen Rechtsgrundsatz offensichtlich verletzt oder in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 97 I 24, 352 mit
Hinweis auf frühere Urteile). Es lässt sich mit sachlichen Gründen die
Ansicht vertreten, § 16 GGR ermächtige den Grossen Rat, im Einzelfall
von der Vorschrift des § 10 abzuweichen, denn die letztgenannte Regel
gehört zu jenen Normen des Gesetzes, von denen der Grosse Rat nach dem
klaren Wortlaut des § 16 abweichen darf. Dass der Wortlaut nicht dem Sinn
entspreche. behauptet der Beschwerdeführer nicht.

    Wird der § 10 GGR nicht nur für sich allein, sondern im Zusammenhang
mit § 16 betrachtet, so lässt sich ohne Willkür die Ansicht vertreten,
nach baselstädtischem Recht sei die parlamentarische Immunität nur
eine bedingte. In den Kantonen welche die bedingte Immunität kennen,
besteht regelmässig eine - unterschiedlich formulierte - Vorschrift,
wonach Mitglieder des Grossen Rats nur mit Ermächtigung des Rats
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Es lässt sich
füglich erwägen, es komme praktisch auf das Gleiche hinaus, wenn das GGR
in § 10 bestimmt, die Mitglieder des Grossen Rats könnten strafrechtlich
nicht zur Verantwortung gezogen werden, und in § 16 den Grossen Rat
ermächtigt, von § 10 abzuweichen und damit die Immunität aufzuheben. Die
in § 10 statuierte Immunität besteht, wie mit Grund angenommen werden
kann, nur unter der Bedingung, dass sie der Grosse Rat nicht gemäss §
16 aufhebt. Diese Auslegung des Gesetzes, die dem angefochtenen Beschluss
zugrunde liegt, hält vor Art. 4 BV stand.

    Der Beschwerdeführer bringt als einzige Verfassungsrüge vor, als er
sich schriftlich und mündlich über die Zustände in der Klinik Friedmatt
geäussert habe, seien seine Handlungen gar nicht strafbar gewesen, da
für ihn damals das Immunitätsprivileg des § 10 GGR bestanden habe. Es
sei willkürlich, durch einen Verwaltungsakt die Strafbarkeit rückwirkend
herbeizuführen. Lauper geht dabei davon aus, das baselstädtische Recht
gewährleiste die unbedingte Immunität, weshalb seine Äusserungen im
Zeitpunkt der Tat straflos gewesen seien und es nicht bloss an einer
Prozessvoraussetzung für das Strafverfahren gefehlt habe. Bei dieser
Argumentation wird der § 10 GGR für sich allein betrachtet und § 16 ausser
acht gelassen. Wie ausgeführt, lässt sich aber ohne Verstoss gegen Art. 4
BV die Ansicht vertreten, im Kanton Basel-Stadt sei die parlamentarische
Immunität auf Grund der §§ 10 und 16 GGR nur eine bedingte, so dass die
Tat vor der Aufhebung der Immunität durch den Grossen Rat nicht straflos
ist, sondern einstweilen nur eine Prozessvoraussetzung fehlt. Ist diese
Auffassung vor Art. 4 BV haltbar, so ist der Rüge des Beschwerdeführers
der Boden entzogen. Wenn die Immunität nach baselstädtischem Recht nur
eine bedingte ist, so sind die unter die Immunität fallenden Äusserungen
nicht straflos, vielmehr fehlt es bis zur Aufhebung der Immunität
bloss an einer Prozessvoraussetzung. Die Auslegung des Gesetzes,
wie sie der Beschwerdeführer für richtig hält, wäre übrigens nicht
sinnvoll. Nach seiner Argumentation wäre es wirkunslos, wenn der Grosse
Rat die Immunität eines Ratsmitglieds aufheben würde, nachdem es sich
geäussert hat. Die Immunität könnte nur für künftige Äusserungen wirksam
aufgehoben werden. Das stünde mit der schweizerischen Rechtsauffassung,
wie sie in verschiedenen kantonalen Erlassen zum Ausdruck kommt,
nicht im Einklang und hätte kaum einen vernünftigen Sinn. Wenn dem
Parlament die Möglichkeit zusteht, die Immunität aufzuheben, so kann
es vernünftigerweise erst darüber entscheiden, ob sich die Aufhebung
rechtfertigt, wenn es die Äusserungen bereits kennt, die Anlass zu
strafrechtlicher Verfolgung geben könnten. Sozusagen ins Blaue hinaus die
Immunität aufzuheben, bevor der Rat weiss, was ein Abgeordneter sagen wird,
wäre sachlich nicht zu begründen. Dass in seinem Fall der Sache nach kein
triftiger Grund bestanden hätte, um von der Regel des § 10 abzuweichen,
behauptet der Beschwerdeführer nicht (vgl. dazu IMBODEN, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, 3. A. Band I Nr 222).

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.